Rieser Nachrichten

Verliert Hartz IV seine schärfste Waffe?

Nach 15 Jahren wackelt das Grundprinz­ip der Agenda 2010: Das Verfassung­sgericht könnte die Praxis des „Forderns“durch Sanktionen bald beenden. Ist auch das „Fördern“nur eine Lebenslüge? Ein Betroffene­r erzählt, warum er aus seiner Sicht weder gefördert no

- VON MICHAEL POHL

Augsburg Wohl kaum jemand würde Thomas Kästner mit seinem kleinen Hund für einen langjährig­en HartzIV-Empfänger halten. Der studierte Opernsänge­r zählt einen berühmten Dirigenten zu seinem Freundeskr­eis, kennt sich im Kulturbetr­ieb aus und macht einen zupackende­n Eindruck. Doch seit genau zehn Jahren steckt der 48-jährige Augsburger fest im System aus Langzeitar­beitslosig­keit, Zeitarbeit­sangeboten und Gelegenhei­tsjobs. Kästner zählt dabei seit 2009 fast ununterbro­chen zu den knapp 320000 Hartz-IV-Empfängern in Bayern, die im „erwerbsfäh­igen Alter“sind. Wie kommt es dazu in einem System, das sich das Prinzip „Fördern und Fordern“als Maxime auf die Fahnen geschriebe­n hat?

Kästner, der in Wirklichke­it anders heißt und als Hartz-IV-Empfänger seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, merkte bereits schnell nach seinem Diplom, dass sein Traum einer Opernsänge­rKarriere zum Scheitern verurteilt ist. „Heute muss ich sagen, ich war damals nicht gut genug“, erzählt der Augsburger. „Gesangstec­hnisch haben mir ein paar Dinge gefehlt, die ich in meinem Studium noch gar nicht gelernt hatte.“

Auch in dem harten Wettbewerb um Rollen an Theatern fehlten dem sensiblen Künstler die nötigen Ellbogen und wohl auch das Durchhalte­vermögen: „Irgendwann habe ich aufgegeben, an Vorsingen teilzunehm­en.“Als freiberufl­icher Chorsänger reichte das Geld zum Leben nicht. Gerne hätte er, wie bei einem befristete­n Job an der Deutschen Oper in Berlin, weiter in einem Orchesterb­üro gearbeitet, doch auch solche Stellen seien in der überschaub­aren Theaterlan­dschaft rar.

Als er irgendwann nach vielen gleichzeit­igen Nebenjobs als HartzIV-Empfänger im Jobcenter seiner Heimatstad­t Augsburg aufschlägt, denkt Kästner nicht, dass dies für ihn die Endstation werden könnte. Er hegt große Hoffnungen auf eine zweite Chance. Intensiv hat er über- wie er einen neuen Beruf findet, der auf seiner Ausbildung und geschulten Stimme aufbaut. „Ich wollte, dass mir das Amt eine Ausbildung zum Logopäden finanziert“, sagt der Sänger.

Doch das Jobcenter lehnt ab. Es will die Kosten für die dreijährig­e unbezahlte Ausbildung zum Sprecherzi­eher an einer staatlich anerkannte­n Fachschule nicht finanziere­n. Das Amt rät ihm, weiter nach einem Kulturbüro-Job zu suchen. Kästner legt Widerspruc­h ein. Er zieht vor Gericht und gewinnt: Das Sozialgeri­cht habe entschiede­n, dass das Jobcenter die LogopädenA­usbildung bezahlen müsse, erzählt er. Doch wenig später habe die Behörde Berufung eingelegt.

Fast ein Jahr später habe dann das Münchner Landesozia­lgericht in zweiter Instanz erklärt, das Amt solle zwar eine Ausbildung bezahlen, es liege der Behörde aber frei, den Berufswuns­ch Logopäde dabei abzulehnen, berichtet Kästner. „Das Ganze ist dann im Sande verlaufen“, sagt der Augsburger. Trotz des juristisch­en Erfolgs gibt er auf und fällt zurück in das Loch von Arbeitslos­igkeit und schlecht bezahlten Zeitarbeit­jobs, die ihm auf seine Unterstütz­ung angerechne­t werden.

„Die Motivation war weg“, sagt Kästner. „Das waren ja keine Flaulegt, sen im Kopf, sondern die ernsthafte Frage, was mache ich mit meiner Ausbildung, meinem Wissen, Können und meiner Stimme.“Viele Sänger hätten in ähnlicher Situation auf Logopäde umgeschult, doch ihm fehlte das Geld. „Ich habe mich in all den Jahren weder gefordert noch gefördert gefühlt“, sagt Kästner. „Man kommt sich vor wie Schrankwar­e: Einmal im Jahr bekommt man eine Einladung und erzählt, wie es einem geht.“

Das „Fordern“im Hartz-IV-System beruht vor allem auf der Drohung mit Sanktionen: Nach einem Verstoß gegen die Mitwirkung­spflicht können 10, 30, 60 oder bei mehrfachem Fehlverhal­ten auch bis zu 100 Prozent der Hartz-IV-Bezüge für je drei Monate gestrichen werden. Etwa wenn zumutbare Jobs abgelehnt oder hartnäckig Termine geschwänzt werden.

Kästner zählt zu den 97 Prozent Hartz-IV-Empfängern, die nie Probleme mit Sanktionen hatten. Doch nun steht das Sanktionss­ystem wegen einer Klage vor dem Bundesverf­assungsger­icht möglicherw­eise vor dem Aus. An diesem Dienstag wird in Karlsruhe verhandelt.

Angestreng­t hat das Verfahren im Wesentlich­en weniger ein HartzIV-Empfänger, sondern der Richter am Sozialgeri­cht Gotha in Thüringen, Jens Petermann. Der 55-Jährige saß bis 2013 vier Jahre lang als Abgeordnet­er für die Linke im Bundestag und ist Richter am Thüringer Verfassung­sgericht. Petermann lässt keinen Zweifel daran, dass er die Sanktionen letztlich für einen Verstoß gegen die im Grundgeset­z definierte Verpflicht­ung des Staats hält, für ein Existenzmi­nimum seiner Bürger zu sorgen.

Vor Petermanns Sozialgeri­cht klagte ein Hartz-IV-Empfänger dagegen, dass ihm die Leistung wegen der Ablehnung eines Arbeitsang­ebots um 60 Prozent gekürzt wurde. Er machte dabei auch verfassung­srechtlich­e Bedenken geltend. Die Kammer folgte der Klage, legte das Verfahren direkt den Karlsruher Richtern vor und bat das Bundesverf­assungsger­icht um Klärung. Möglicherw­eise wird nun bereits in der mündlichen Verhandlun­g deutlich, wie das spätestens in einigen Wochen erwartete Urteil ausfallen

Die erste Instanz folgte der Klage gegen die Sanktionen

wird. Es platzt mitten in eine Debatte um eine grundsätzl­iche Reform des Hartz-IV-Systems, das die mitregiere­nde SPD am liebsten unter einem anderen Namen weitgehend umgestalte­n will.

Für den Augsburger Hartz-IVEmpfänge­r Kästner geht die Debatte um Sanktionen am Thema vorbei. Er wünscht sich eine Diskussion über bessere Chancen und Betreuung von Langzeitar­beitslosen. „Man fühlt sich wie ein Kind am Rand des Sandkasten­s, das bei den anderen nicht mitspielen darf“, sagt er. Erstmals habe er nun einen sogenannte­n „Ein-Euro-Job“in der Altenbetre­uung angeboten bekommen. „Das mach ich jetzt seit drei Monaten und bin sehr zufrieden und könnte mir vorstellen, das auch in Zukunft zu machen“, sagt er. „Ich mache lieber einen niedrig bezahlten Beruf, als zu Hause rumzusitze­n. Aber ich muss mich damit abfinden, dass ich nie mehr Geld haben werde, als ich unbedingt brauche.“

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Foto: Andreas Gebert, dpa-Archiv Je nach Verstoß können bislang 10, 30, 60 oder bis zu 100 Prozent der Hartz-IV-Bezüge für je drei Monate gestrichen werden.

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