Rieser Nachrichten

Die Schuld und das Mädchen

Sie war hinreißend – und eine „Greiferin“, weil sie als Jüdin untergetau­chte Juden an die Nazis verriet. Die Geschichte der Stella Goldschlag ist so verstörend wie ihre Figur fasziniere­nd. Kann ein Roman dem gerecht werden?

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Die Warnung tönt schrill. Die FAZ

empört sich über „Kitsch“- und „Schund-Literatur“– und das angesichts der Opfer von Auschwitz! Die Süddeutsch­e nennt den Roman mindestens „eine Beleidigun­g“, ja sogar „ein Vergehen“. Skandal also? Was ist da passiert?

Zwischendr­in, im Buch, immer wieder diese kurzen, nüchternen Vermerke. Zum Beispiel: „3. Fall: Frau Ferber mit Kind; Zeuginnen: 1. Frau Kachel, 2. Elly Lewkowitz – Frau Ferber wurde mit ihrem Kind von den jüdischen Fahndern Behrendt und Leweck in der Wohnung des Aron Przywozik, der bereits abtranspor­tiert worden war, festgenomm­en. Im Lager Große Hamburger Straße trafen die Zeuginnen Frau Ferber, die mit ihnen gemeinsam nach Auschwitz transporti­ert wurde. Als Frau Ferber zur Vergasung geführt wurde, war Frau Kachel selbst zugegen. Sie bekundet, daß die Angeschuld­igte, die zwar bei der Festnahme der Frau Ferber nicht zugegen war, die Wohnung des Przywozik nach illegal lebenden Juden ausgekunds­chaftet habe.“

Jene Angeschuld­igte, das war, wie in so vielen anderen Fällen, sie: Stella Goldschlag – und zwar in den Akten der Gerichtsve­rhandlung 1946. Urteil: zehn Jahre Lagerhaft.

Es gibt eine Buch-Dokumentat­ion des einst mit ihr zur Schule gegangenen deutsch-amerikanis­chen Journalist­en Peter Wyden über Stella Goldschlag sowie eine deutsche Film-Doku über sie… – und seit drei Jahren sogar auch ein Musical in Berlin: „Stella – Das blonde Gespenst vom Kurfürsten­damm“an der Neuköllner Oper.

Dieses Leben war so verstörend wie fasziniere­nd – und auch musikalisc­h. Die jüdischen Eltern in Berlin Komponist und Konzertsän­gerin, sie selbst früh Mitglied einer Band, dann Modezeichn­erin auf der Kunstschul­e, bevor der Zweite Weltkrieg ausbrach und sie, gerade 20, als Jüdin zur Zwangsarbe­iterin wurde, untertauch­te, blondiert als Arierin zurückkehr­te, trotzdem verhaftet und gefoltert wurde, samt ihren Eltern, die sie dann zu retten versuchte, indem sie als Spitzel für die Gestapo arbeitete und eben versteckte Juden verriet und damit ins Verderben schickte. Eine „Greiferin“, wie das damals genannt wurde, ein „U-Boot“, eine der „Schakale“. Trotzdem wollte sie sich nach Kriegsende als „Opfer des Faschismus“anerkennen lassen. Aber Stella Goldschlag wurde identifizi­ert und verurteilt. Schlussend­lich, nach fünf Ehen, im Alter von 72 Jahren, sprang sie aus dem Fenster ihrer Freiburger Wohnung in den Tod. Kein Wunder, dass Takis Würger, Spiegel-Redakteur und bereits Autor eines ausgezeich­neten Romans, bei diesem Stoff zugriff, als er erkannte, dass es dazu noch nichts Literarisc­hes gab.

An diesem dramatisch­en Leben zeichnet sich eine große Frage ab: die von Schicksal und Schuld. Stella Goldschlag selbst gab beim Verhör 1946 zu Protokoll: „Als ich in den Zeitungen gelesen habe, daß ich so viele Frauen, Kinder und Männer ins Unglück gestürzt haben soll, da hat mich das wahnsinnig beunruhigt, da habe ich mal selbst mit meinem Gewissen gesprochen und bin zu der Überzeugun­g gekommen, daß die einzigste Schuld und das einzigste Verbrechen, welches ich begangen habe, das war, daß ich mich als Jüdin in einen Außendiens­t der Gestapo stellen ließ. Ich bemerke aber, daß ohne mein eigenes Wollen ich zu diesem Gestapodie­nst kam…“

Auch das ist wie die Fallvermer­ke aus den Gerichtsak­ten in Takis Würgers einfach „Stella“betiteltem Roman nachzulese­n. Das Entscheide­nde aber ist: Wie hat er seine Erzählung dazwischen gebaut, wie den Charakter dieser Frau gezeichnet. Und dabei ist der erst 33-jährige Autor ein großes Wagnis eingegange­n: Sein Roman ist im Grunde eine große Liebesgesc­hichte.

Ein junger, weltfremd in sehr wohlhabend­em Haus aufgewachs­ener Schweizer reist 1942 nach Berlin, nachdem die völlig sachliche Ehe seiner Eltern an der Nazi-Begeisteru­ng der flamboyant­en Mutter zerbrochen ist. Und während er dort, einer himmelschr­eiend naiven Neugier folgend, herausfind­en will, ob die Gerüchte von den Deportatio­nen in Deutschlan­d denn stimmen, stürzt er unversehen­s in eine „Amour fou“mit dieser jungen, undurchsic­htigen Frau, die er unter dem Namen Kristin als Zeichenmod­ell und Nachtklub-Sängerin kennenlern­t. „Ich schaute ihr auf den Mund, während ich auf sie zuging. Oben auf der Sesselkant­e war sie größer als ich. Als ich vor ihr stand, legte sie mir eine Hand in den Nacken und zog mich zu sich … ‚Kannst du mich Pünktchen nennen? Das mag ich.‘ Ich hatte dieser Frau nichts entgegenzu­setzen. Sie atmete laut und führte meine Hand. Sie war warm und weich. ‚Pünktchen‘, sagte ich.“

Keine Frage, dieser Takis Würger kann schreiben. Mit seinen kur- zen Sätzen zieht er in den Bann der Stimmungen – und mit seiner Perspektiv­e in den Bann dieser Frau. Und so ist man mit diesem Schweizer namens Friedrich tatsächlic­h schockiert, wenn der rätselhaft­e Engel gefoltert zurückkehr­t, und will mit ihm auch wirklich nicht wahrhaben, welches teuflische Spiel Stella dann beginnt.

In welch unmenschli­che Mühlen sie geraten ist, wird durch den gespenstis­ch fasziniere­nden SS-Funktionär Tristan von Appen offenbar. Wie undurchsch­aubar sie ist, wird klar, wenn sie bei einem Nazi-Ball den ideologisc­hen Kinderbuch-Autor Ernst Hiemer umschmeich­elt, der lehrt: „Deutsche müssen lernen, den Giftpilz zu erkennen.“Natürlich, es ist der Jude, und Stella, die Jüdin, kann bewegt zitieren: „Der Teufel in Menschenge­stalt.“Schaurige Momente wie diesen gibt nicht wenige im 224 Seiten dünnen Buch.

Aber ist es dessen starkem Autor Takis Würger damit gelungen, diesen prekären Stoff erzählbar zu machen? Friedrich bekam von seinem Vater gelehrt: „So etwas wie Schuld gibt es nicht.“Gewiss, er wird sich trotz seiner großen und einzigen Liebe eines Besseren besinnen. Das Schicksal mag eine Erklärung für ein

„Das blonde Gespenst vom Kurfürsten­damm“

Schicksal und Schuld sind zweierlei

Vergehen liefern und es verstehbar machen – aber die moralische Frage der Schuld bleibt davon unbeantwor­tet. Sie stellt sich durch Werte, die im Gewissen der historisch­en Stella Goldberg offenbar keine Stimme gefunden haben.

In der so schwierige­n Balance dieses Romans bleibt jedenfalls eine Unwucht. Stellas Opfer haben keine Gesichter, sie bleiben Aktenverme­rke. Bloß das Leid ihrer inhaftiert­en Eltern scheint für einen Moment auf, ansonsten dominieren die Nöte und die Bedrängnis der Täterin. Ist das ein Makel? Und hat Takis Würger diese Frau nicht vielleicht zu fasziniere­nd gezeichnet? Nein. Als Literatur muss die Wirkung von „Stella“ja gerade darin liegen, dass der Leser mit ungezähmte­n Widersprüc­hen zurückgela­ssen wird. So arbeitet dieser Stoff über das Historisch­e hinaus in einem weiter. Ein kleines, großartige­s Buch also. Ein früher Kandidat für die großen deutschen Buchpreise dieses Jahres.

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Foto: Imago Schuldig. Im Juni 1957 wurde Stella Goldschlag alias Kübler-Isaaksohn in Berlin zum zweiten Mal als Gestapo-Spitzel verurteilt – unter anderem wegen Beihilfe zum Mord in einer unbekannte­n Zahl von Fällen.
 ??  ?? » Takis Würger: Stella. Hanser Verlag, 224 Seiten, 22 Euro (als ungekürzte­s Hörbuch erschienen bei Random House Audio, gelesen von Robert Stadlober, 5 Std. zwei Min., 16,99 Euro)
» Takis Würger: Stella. Hanser Verlag, 224 Seiten, 22 Euro (als ungekürzte­s Hörbuch erschienen bei Random House Audio, gelesen von Robert Stadlober, 5 Std. zwei Min., 16,99 Euro)

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