Rieser Nachrichten

Willkommen in der Stadt der Überraschu­ngen

Wer zum ersten Mal nach New York reist, hat Erwartunge­n. Nicht immer werden sie erfüllt, doch dafür entdeckt man Seiten, die man dort nicht vermutet hätte. Ein Besuch in der Stadt, die eben doch manchmal schläft

- / Von Nicole Prestle

Vielleicht sollte man sich New York nur so nähern, wie es vor Jahrhunder­ten die ersten Siedler taten. Von Süden her, eventuell sogar vom Wasser, ja – aber auf jeden Fall von Süden. Denn Kenner sagen, wer einmal die Skyline von Manhattan vor sich „auftauchen“sah, wird diesen Anblick nie vergessen.

Man versteht diesen Satz, sobald sich das Taxi der Südspitze der Insel nähert: Gut 6000 Hochhäuser gibt es in New York, ein Großteil davon steht in Manhattan. Hat man alles schon gehört, klar, doch dann das: All die Jahre, in denen man sich auf den ersten Besuch in Big Apple freute, all die Jahre, in denen man darauf brannte, endlich die Freiheitss­tatue zu sehen, lösen sich in Sekunden in Erstaunen auf. Amerikas Freiheitss­ymbol wirkt klein, ach, winzig im Vergleich zu all den Wolkenkrat­zern. Willkommen in der Stadt der Überraschu­ngen.

Zugegeben: Drei Tage dort zu verbringen, ist eine dreiste Hochnäsigk­eit gegenüber dieser Mega-City. Wochen müssten es sein, um sich annähernd einen Überblick zu verschaffe­n. Doch wer hat schon Zeit für ein so intensives Kennenlern­en? Deshalb also die Einsteiger­variante: Big Apple für Bedächtige mit Lower Manhattan als Ausgangsba­sis – das Viertel, in dem die Geschichte New Yorks begann.

Einer, der viel darüber erzählen kann, ist der Deutsche Volker Hanke. Es ist ein kühler Herbsttag und der 48-Jährige erwartet seine Gäste im Battery Park, dem südlichste­n Ende von Manhattan. Im Hintergrun­d Möwengesch­rei, von der Upper Bay weht ein kühler Wind herüber – müsste sich Großstadt nicht anders anfühlen? Hanke lächelt. Manhattan, sagt er, sei eben anders. In vielen Dingen. Er muss es wissen: Vor Jahren noch hat er selbst hier gelebt, dann zog er rüber nach Staten Island – des Geldes wegen: „Die meisten anderen Bezirke hier sind nicht mehr zu bezahlen.“

Auch Manhattan nicht, das einstiner ge Einwandere­rviertel, dessen Bevölkerun­gsstruktur bis Mitte der 80er Jahre sehr gemischt war. Doch erst zogen die Ärmeren weg, später die Mittelschi­cht. Ein Grund sind die Mieten im ältesten Viertel der Stadt, die inzwischen zu den weltweit höchsten zählen. 1800 Dollar für eine Ein-Zimmer-Wohnung mit Kochnische sind Standard. Das kann sich kaum jemand leisten, weshalb sich das Gesicht Manhattans allmählich veränderte. Zwar leben gut 1,6 Millionen Menschen dort, mehr als in München – doch 1910 waren es noch doppelt so viele. „Erst haben hier Leute gewohnt, dann kam die Industrie, jetzt sind das fast alles Büros“, fasst Hanke die Entwicklun­g lapidar zusammen.

Tagsüber ist Manhattan geschäftig: Im Finanzdist­rikt spurten Männer in Anzügen mit einem Coffee to go in der einen und dem Smartphone in der anderen Hand durch die Straßen. An den mobilen Essensbude­n vor der New Yorker Börse drängen sich zur Lunch-Zeit Geschäftsl­eute, während auf der Rückseite des Gebäudes Touristen rund um den bronzenen Wall-Street-Bullen Schlange für das beste Erinnerung­sfoto stehen. Taxigehupe; Stadtführe­r, die versuchen, ihre Gruppen zusammenzu­halten; Reisende, die Rollkoffer zwischen ge- Autos und Mülltonnen hindurchbu­gsieren. So stellt man sich New York vor. Doch wer zu späterer Stunde durch die Häuserfluc­hten Manhattans schlendert, bekommt die Bürostadt zu spüren: Der Drogeriema­rkt einen Block vom Hotel entfernt hat ab 19 Uhr geschlosse­n. Am Café einige Häuser weiter? Herunterge­lassene Rollläden. Die meisten Fenster: dunkel. Die Hektik, die etliche Blocks weiter nördlich am Times Square herrscht, die blinkenden Lichter, die Rund-um-die-Uhr-GroßstadtG­ehetzten – das alles sucht man vergeblich in Lower Manhattan. Hier kommt die Stadt, die angeblich niemals schläft, noch etwas zur Ruhe.

Manhattan ist einer von fünf New Yorker Bezirken, doch er ist der bekanntest­e. Freiheitss­tatue, Broadway, Wall Street, das Mahnmal der Terroransc­hläge vom September 2011 – fast alle wichtigen Sehenswürd­igkeiten befinden sich hier. Mindestens ebenso spannend wie diese Gegenwart ist aber die Vergangenh­eit: „Die Stadt wurde von Süden besiedelt“, sagt Volker Hanke. Alles, was Big Apple ausmacht, nahm seinen Anfang in Manhattan – an einem Septembert­ag im Jahr 1609 mit einem englischen Seefahrer, der sich gehörig in der Route geirrt hatte.

Henry Hudson war wenige Monate vorher von Holland aus losgesegel­t. Die niederländ­ische Ostindien-Kompanie hatte ihn beauftragt, eine Nordpassag­e nach Asien zu finden, um den Handel mit den Kolonien zu sichern. Doch Hudson hatte andere Ideen: Er segelte nach Westen und erreichte die Bucht von New York. Den Holländern schilderte er diesen Ort später mit mächtigen Worten: Er habe einen Fluss gesehen, „breit und tief, mit guten Ankerplätz­en“. Er habe ein Land entdeckt, das sich „wie kein anderes“zur Kultivieru­ng eignete. Er sprach von Pelzwaren und Austern, die die Einheimisc­hen in Hülle und Fülle besäßen. Wen wundert es, dass von dieser Zeit an bis heute Millionen Menschen auszogen, um in dieser Neuen Welt nach einem besseren Leben zu suchen.

Im Grunde ist auch Volker Hanke einer von ihnen. Als er von Paderborn in die Vereinigte­n Staaten kam, sollte es ein Aufenthalt auf Zeit sein. Sein Visum lief ab, Hanke reiste aus, nur um kurz später wiederzuko­mmen. Mehrmals ging das so, bis er endlich die Green Card bekam. Als Stadtführe­r bringt er deutschen Touristen nun New York näher.

Sein New York, weil es das New York nun einmal nicht gibt.

„Rund 40 Prozent der Amerikapar­kten können nachweisen, dass ihre Vorfahren als Einwandere­r auf Ellis Island ankamen“, erzählt Hanke jetzt und zeigt mit dem ausgestrec­kten Arm auf die Insel in der Bucht von New York. Die Iren verließen ihr Land nach der Hungersnot, die Italiener aus Armut, viele andere mit der Hoffnung auf ein freies Leben oder die Möglichkei­t, ihre Religion zu leben.

Unter Präsident Donald Trump hat sich diese Toleranz zumindest bei einigen Amerikaner­n erschöpft. Das „gelobte Land“, in dem auch arme Menschen mit Fleiß zu Geld kommen konnten, kehrt nun eben diesen Einwandere­rn den Rücken. Trumps grundsätzl­iche Haltung, seine Idee einer Mauer an der Grenze zu Mexiko, ruft aber auch Widerstand hervor. „In Manhattan haben Bewohner eines Trump-Hochhauses kürzlich so lange protestier­t, bis man den Trump-Schriftzug abnahm“, erzählt Hanke.

Seine Gäste hat er inzwischen weggeführt vom New Yorker Hafen, in dem nur noch Kreuzfahrt­schiffe anlegen. Hanke ist mit ihnen über den Broadway geschlende­rt, der für die Indianer einst ein Pirschpfad war. Die Wall Street erhielt ihren Namen wegen einer Mauer: Die Niederländ­er hatten sie gebaut; nicht, um sich vor den Indianern zu schützen, sondern vor den Engländern, die weiter nördlich Kolonien besaßen und gerne nach Manhattan vorgedrung­en wären. Wer Ausdauer hat, kann in Lower Manhattan zu Fuß durch alle Epochen der New Yorker Geschichte spazieren. Ein kurzweilig­er Zeitvertre­ib.

Was einen Spaziergan­g durch den Bezirk ebenso fasziniere­nd macht, ist der sich stets verändernd­e Blickwinke­l. Wer den Kopf in den Nacken legt, sieht nur noch Hochhausfa­ssaden und dazwischen etwas Himmel. „Es gab eine Zeit, da hatten die Menschen hier Angst, dass sie bald kein Tageslicht mehr sehen würden“, erzählt Hanke. Von da an habe man neue Gebäude leicht versetzt errichtet. Gebaut wird in Manhattan tatsächlic­h überall, wo es noch freie Flächen gibt. „Alles hier dreht sich um Immobilien.“

Aber dann sind da eben auch die Ausblicke. Von der Brooklyn Bridge aus lässt sich die Bucht von New York einsehen, auch der Blick auf die Freiheitss­tatue ist wieder frei. Sie ist immer noch winzig, doch die meisten Menschen hier haben sowieso nur ein Ziel: Ein gutes Foto von sich vor der Kulisse Manhattans zu machen, ohne dabei von einem Radfahrer erwischt zu werden. Ach ja: Die Kamera sollte man tunlichst auch nicht fallen lassen, denn unter dem Fuß- und Radweg rauscht auf sechs Spuren der Autoverkeh­r zwischen Brooklyn und Manhattan hin und her.

Und was bleibt einem Neuling nun nach drei Tagen New York und knapp 50 Kilometern zu Fuß? Zunächst die Erkenntnis, dass diese Stadt gar keine Erwartunge­n erfüllen kann, weil sie all die Bilder und Klischees schon bei der ersten Begegnung durcheinan­derwirft. Vielleicht auch das Erstaunen darüber, dass es bei allem Gigantismu­s auch ruhige und beschaulic­he Orte zu finden gibt. Mit Sicherheit aber die Sehnsucht wiederzuko­mmen, um irgendwann sein eigenes New York gefunden zu haben.

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Foto: Nicole Prestle Wenn man erst mal da ist, ist ein Erinnerung­sfoto von der Brooklin Bridge ein absolutes Muss. Der Blick auf Manhattan ist berauschen­d. Ein Großteil der rund 6000 Hochhäuser New Yorks steht dort.

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