Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (51)
Er fährt in ein Hotel nach Königswinter, schickt das Auto zurück und schläft bis zum Mittag. Als er aufsteht, rasiert er sich den Schnurrbart ab, kauft sich einen langen gelben englischen Ulster mit hochaufstellbarem Kragen, telegraphiert abermals an Elli und widerruft das gestrige Telegramm: kann man deutlicher handeln? zielbewußter sich aus der Ratlosigkeit erheben?
Allerdings behauptet er später, er habe zuerst Anna sprechen wollen, habe beabsichtigt, sie in den Garten rufen zu lassen, und damit sie ihn nicht sofort erkenne und die Unterredung verweigere, habe er sich unkenntlich gemacht, die abendliche Stunde würde ihn ja dabei begünstigt haben, er hätte ihr dann vorgeschlagen, noch in derselben Nacht mit ihm zu fliehen. Den Ulster zu kaufen, sei er genötigt gewesen, weil er nur den Sommermantel mitgehabt und das Wetter plötzlich kalt geworden war. Klägliche Erklärungen. Der Zusammenhang,
gegliederte Kette, liegt offen zutage.
Was nicht hindert, daß in Herrn von Andergast Zweifel über Zweifel entstehen. Es ist ungefähr wie Selbstspaltung der kleinsten Teile. Die nämliche Konstruktion, deren Festigkeit, wie es ehemals geschienen, jedem Angriffe getrotzt, zeigt nun dem geschärften Blick überall Risse und Sprünge. Und sind es nur Erfahrung und Zeit, die das nachprüfende Auge geschärft haben, von Anwaltschaft und Parteinahme befreite Sachlichkeit? Sollte nicht da eine gewisse kleine Blendlaterne aus Amorbach in Funktion getreten sein, gar nicht Gleichnis, sondern ganz wirklich, ganz dinghaft greifbar, obschon von einer unsichtbaren Hand regiert? Sie läßt ihren grellen Schein auf die Gestalten und Vorgänge fallen, um sie in das noch unerforschte Dunkel zu verfolgen. Aber auch ein Paar Augen wirken mit, ein Paar sechzehnjährige frische, kühne Augen, dahinter ein Wille, der sich mitzuteilen weiß und dessen Unwiderstehlichkeit in umgekehrtem Verhältnis zur Entfernung seines körperlichen Trägers steht.
Das macht ja auch die Erscheinung so deutlich: Entfernung. Und zwar eine Entfernung, räumlich und zeitlich, auf die der eigene Wille keinen Einfluß mehr hat und die alles, was die Erinnerung aus ihr produziert, zur Zwangsvorstellung werden läßt. Da ist er nun wieder, mitten im Gewoge der Schattenfiguren, der braunlockige Knabe, fünfjährig etwa, im Matrosenanzug, Hände in den Hosentaschen, der Mund frech zum Pfeifen gespitzt, vor der Stiege stehend und über das Rätsel sinnierend, wie man hinuntergelangen könnte, ohne die Stufen zu benützen. Man sieht ihm an, daß er Stufen verachtet, er hat ja erst kürzlich seine Überzeugung verkündet, daß er fliegen kann, daß er dazu jedoch einer komplizierten Zauberformel bedarf, die man nur auszusprechen vermag, wenn man fünf Minuten in die Sonne geschaut hat, ohne mit den Augen zu zwinkern. Das probiert er jeden Tag einmal und ist äußerst ungeduldig, wenn es nicht gelingt, äußerst beschämt, wenn er behauptet, es sei gelungen, und ihm nachgewiesen wird, daß er geschwindelt hat.
Herr von Andergast sieht folgendes Bild vor sich: Es ist ein Sonntagvormittag, er hat Etzel ins Liebigmuseum mitgenommen. Der Knabe steht vor einer antiken Venus und starrt sie mit eigentümlich erschrockenen, tief staunenden Augen an. Eine junge Dame geht auf Herrn von Andergast zu, um ihn zu begrüßen. Etzel richtet den verlorenen Blick auf sie, dann auf die Statue, dann wieder auf die lebendige Frau, dann sagt er, Herr von Andergast glaubt noch jedes Wort zu hören, in zögerndem Tonfall: Sehen alle Damen so aus, Papa, so wunderbar schön? Eine geheimnisvolle Angst ist in dieser Frage, die leuchtenden Augen können sie nicht verbergen, die Angst der Engel vielleicht, wenn Gottes ausgestreckter Arm auf die gehäufte Schuld der Kreaturen und auf den blut- und kummergedüngten Weg weist, der von irdischer Liebe durch den Tod hindurch zur himmlischen geht. Aber diese Erkenntnis oder Ahnung ist eben eine des Zweiten Gesichts und von heute, damals ging man darüber hinweg. Wie über alles schließlich. Die Lebensäußerung an sich ist ja so selbstverständlich. Wenn einer da ist, ist er eben da. Kindheit ist ein unvollkommener Zustand; ihn zu einem möglichst vollkommenen zu machen, ist die Sache der Eltern und der Lehrer. Der Vater ist was Überragendes, er hat die Weltgeschäfte zu besorgen, und das von ihm erzeugte Geschöpf hat nichts weiter zu tun, als ihn sich zum Muster zu nehmen und folgsam in seine Fußstapfen zu treten. Der einzelne Tag macht keinen Einschnitt, die Stunde lädt nicht zum Aufenthalt ein, sie müssen addiert werden, die Summen der Zahlenkolumnen bedeuten: Klassenaufstieg, Konfirmation, Semestralzeugnis, Jahreszeugnis, Examina; die Endsumme ergibt Inhalt und Wert des Lebens. Eine Rechenaufgabe.
Herr von Andergast entsinnt sich einer schweren Krankheit, die Etzel um sein achtes Jahr herum gehabt hat. An einem Abend, ziemlich spät, tritt er ins Kinderzimmer an das Bett des Knaben. Die Mutter ist um diese Zeit längst nicht mehr im Haus. Das Gesicht des Kindes ist hochrot, die Augen glühen, die Haare kleben schweißnaß an der Stirn. Vierzig Grad Fieber. Als Etzel des Vaters ansichtig wird, malt sich ein befremdlicher Schrecken in seinen Zügen, er wendet den Kopf weg und stammelt unverständliche Laute. Die Pflegerin sucht ihn zu beruhigen, streicht ihm mit der Hand über den Scheitel und sagt sanft: Schau doch, Büblein, es ist dein Papa. Aber das Kind bäumt sich, als solle es gezüchtigt werden, und seine trockenen Lippen lallen: Die Rie soll kommen. Man holt die Rie, sie kniet bei seinem Lager nieder und nimmt seine Händchen in ihre Hände. Da wird er still und flüstert nur: Ich will nicht sterben, hörst du, Rie, und sag’s auch der Mama, ich will nicht sterben. In diesem „Ich will nicht“liegt eine so ungeheure Entschlossenheit, daß die Rie, entgegen ihrer sonstigen wehleidigen Art, mit tiefem Ernst erwidert: Das ist gut, Etzelein, wenn du nicht willst, wirst du auch nicht sterben; dann weißt du auch, daß wir dich brauchen. Wunderliche Närrin, denkt Herr von Andergast. Obschon er bewegt und in ernstlicher Sorge war, erschien ihm dieses Wort damals ebenso töricht wie unpassend. Man kann ein Kind lieben, selbst dann, wenn man ihm die Tatsache sorgfältig verhehlt (und hat „man“das Verhehlen nicht bis zu einem Punkt getrieben, wo von der Tatsache schließlich nicht mehr viel übrig war?), aber man kann ihm nicht sagen, daß man es brauche. Und man braucht es wohl auch nicht; man „braucht“Könige, Generäle, Offiziere, Richter, Staatsanwälte, Soldaten, Arbeiter, Dienstboten; aber Kinder müssen zur Brauchbarkeit erst erzogen werden.
Nein, von Liebe konnte wohl im ganzen nicht eigentlich gesprochen werden, kaum von einer der zahlreichen Abarten des Begriffs.