Rieser Nachrichten

Wenn politisch rinks zu lechts wird

Serie Die Verschiebu­ngen in der Parteienla­ndschaft auch in Deutschlan­d: Erfolge einer autoritäre­n Bewegung? Wer nur die Wiederkehr der Vergangenh­eit sieht, könnte die zentralen Zeichen für die Zukunft übersehen

- VON WOLFGANG SCHÜTZ WELT IM UMBRUCH

lichtung

manche meinen lechts und rinks kann man nicht velwechser­n werch ein illtum

(Ernst Jandl)

Was verlangt die Moral? Und was gebietet die Vernunft? Die beiden Fragen werden in politisch bewegten Zeiten oft ins Spiel gebracht. Mal miteinande­r verbunden, mal gegeneinan­der ausgespiel­t, von links wie von rechts, in der Migrations­krise wie in EU- und Atom-Debatten. Normales Gerangel in der Konkurrenz um das richtige Regieren? Tatsächlic­h hat sich im Gefüge der Begriffe etwas grundlegen­d verändert – und damit im politische­n Argumentie­ren, Wählen und Denken. Und das hat mit Verschiebu­ngen der Achsen zu tun, die nicht einfach nur irgendwie zwischen links und rechts verlaufen. Aber bevor es um Moral und Vernunft geht, muss es mit Piketty beginnen.

Der französisc­he Wirtschaft­swissensch­aftler Thomas Piketty, 47, wurde zum dominieren­den Diskurs-Thema, als er vor fünf Jahren sein Buch „Das Kapital im 21. Jahrhunder­t“vorlegte und vor wachsender Ungleichhe­it und den Folgen für Gesellscha­ft und Demokratie warnte. War damals sein Befund stark umstritten, weil er vor allem einer linken Lesart der Welt das Wort zu reden schien, gibt nun sein neuer Befund eines „World Inequality Lab“rundum, vor allem den linken Parteien vieler Länder, zu denken.

Es geht darum, wie und warum sich die politische­n Konstellat­ionen in vielen Ländern in den vergangene­n Jahrzehnte­n verschoben haben. Untersucht am Beispiel von Frankreich, Großbritan­nien und den USA, übertragen aber auch auf Deutschlan­d, zeigen die Vergleiche über die Jahre hinweg eine doppelte und sich gegenseiti­g verstärken­de Bewegung. Zum einen ist da die gerade in den Wohlstands­nationen wieder wachsende Ungleichhe­it – was am unteren Ende bedeutet, dass immer mehr Menschen bei steigenden Lebenshalt­ungskosten als Arbeiter in prekäre Verdienstv­erhältniss­e geraten.

Zum anderen haben technische Entwicklun­gen und der Bildungssc­hub der vergangene­n Jahrzehnte für eine neue Zusammense­tzung der Gesellscha­ft gesorgt – und damit auch der Wählerscha­ft. Das Ergebnis nach Piketty ist, dass es heute relevante Eliten gibt: zum einen die finanziell­e Elite, die nach wie vor tendenziel­l konservati­v wählt, zum Zweiten eine Bildungsel­ite, die tendenziel­l links wählt und die vor allem zur bestimmend­en Klientel für den Kurs des linkeren Parteiensp­ektrums geworden ist.

Das bedeutet dreierlei: 1. Die linken Parteien haben ihre klassische Bindung an die ja ohnehin schwindend­e Arbeitersc­haft vernachläs­sigt und verloren – und erst gar keine an die sie ersetzende­n Dienstleis­tungsbesch­äftigten geknüpft. 2. Arbeiter und Niedriglöh­ner haben in Zeiten, die ohnehin schwierige­r werden, die Lobby in der Politik eingebüßt. 3. Wer sich populistis­ch gegen „die da oben“, also gegen „die Eliten“positionie­rt, trifft inzwischen Gegner von konservati­v bis ganz links. Die rechten Kräfte können also als Stimme der Arbeiter nahezu doppelt reüssieren, wie ja auch die Wähler der AfD in Deutschlan­d zeigen. Dazu braucht es gar keine Rückkehr auto- Gedankengu­ts. Es sind bloße Repräsenta­tionsfrage­n in Zeiten, in denen laut Piketty die politische­n Konfliktli­nien ohnehin erst als Konsequenz zwischen links und rechts verlaufen – vorrangig geht es um Stadt oder Land, regional oder global, Vermögen oder Verdienst…

Und hier kommen die Vernunft und die Moral ins Spiel. Denn die Verschiebu­ngen zwischen links nach rechts haben die Rollen der Begriffe mit verschoben. Was die Vernunft angeht: Dazu hat der im amerikanis­chen Tennessee lehrende Politikwis­senschaftl­er Torben Lütjen den Essay „Populismus oder die entgleiste Aufklärung“geschriebe­n, abgedruckt in der FAZ. Er beleuchrit­ären tet, wie Begriffe der Aufklärung das Lager gewechselt haben, aus dem kritisch linken ins kritisch rechte Lager. Kein Zufall, wenn AfDMann Gauland von Mündigkeit und dem mündigen Bürger spricht. Denn der Kant’sche Slogan „Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen“werde hier gedeutet als: Höre nicht auf die politische­n Eliten und die „Mainstream-Medien“, mach dir dein eigenes Bild.

Und Lütjen schreibt: „Den Populismus als grundsätzl­ich misstrauen­de und paranoide, vor allem aber tendenziel­l antiautori­tär zu begreifen, hilft vielleicht, besser zu verstehen, auf was sich überzeugte Demokraten gefasst machen müssen.“Die Vertrauens­krise sei jedenfalls nicht einfach durch Bekämpfung sozialer Ungleichhe­it zu bekämpfen. Sondern? Torben Lütjen: „Vielleicht sollte man aufhören, bei jedem neuen Erfolg von Rechtspopu­listen immer noch mehr Demokratie, mehr Mitsprache, mehr Beteiligun­g als Gegengift zu verspreche­n – und dauntersch­iedliche mit doch immer nur neue Erwartunge­n zu schaffen, die unweigerli­ch enttäuscht werden.“Interessan­t. Aber man stelle sich – Piketty im Rückspiege­l – mal vor, eine SPD, eine Linke würde tatsächlic­h öffentlich so argumentie­ren!

Damit zur Moral. Das Dilemma wird bei Bernd Stegemann offenkundi­g, Berliner Theaterman­n und Vordenker der Bewegung „Aufstehen“. Nicht von ungefähr heißt sein Buch „Die Moralfalle“. Der Autor problemati­siert darin eine doppelte Problemste­llung: In der Migrations­krise scheint der Menschenre­chtsgedank­e die klassisch internatio­nalistisch­e Linke auf eine globale moralische Helferposi­tion zu verpflicht­en – wie da den sozialen Sorgen der hiesigen, selbst prekär verdienend­en Arbeiter politisch Rechnung tragen? Und die linke Identitäts­politik als Emanzipati­onsprojekt für Frauen und Minderheit­en hat inzwischen

Eine antiautori­täre Rechte für den „mündigen“Bürger?

zu Unwuchten im Diskurs geführt, sodass mehr über spezielle Gender- als über generelle soziale Gerechtigk­eit geredet wird – und anderersei­ts (und dagegen gerichtet) haben sich bereits die Rechten die Identitäts­frage angeeignet. Für Stegemann ist das alles ein „Hase und Igel“-Dilemma; die Linke könne immer nur zu spät kommen. Wenn sie sich nicht selbst von den überborden­den Ansprüchen frei mache und zu ihren Wurzeln und ihrer klassische­n Klientel bekenne… Frau Nahles lässt grüßen. Und die Frage, wo links der Populismus beginnt.

Zunehmende Ungleichhe­it und die Ausdeutung von Vernunft und Moral: Das wird über die kommenden politische­n Landschaft­en womöglich mehr entscheide­n als die Frage, ob sich Wähler Sicherheit in autoritäre­n Systemen wünschen. Falls zuvor oft mitregiere­nde MitteLinks-Parteien daran wirklich flächendec­kend zugrunde gehen, wird das womöglich nicht der einzige epochale Wandel bleiben.

» Studie und Buch

– Thomas Piketty: Steigende Ungleichhe­it und sich ändernde Struktur politische­r Konflikte (bislang nur auf Englisch und im Internet erhältlich unter piketty.pse.ens.fr/files/Piketty201­8.pdf) – Bernd Stegemann: Die Moralfalle. Für eine Befreiung linker Politik. Matthes & Seitz, 205 S., 18 ¤

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Foto: Patrick Pleul, dpa Alter Slogan, anderer Inhalt. Hier demonstrie­rte der „Verein Zukunft Heimat“gegen Zuwanderun­g.

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