Rieser Nachrichten

Wo das Erdöl die Fische vertreibt

Die Niwchen sind ein kleines altes Volk auf Sachalin – Russlands größter Insel, zugleich die öl- und gasreichst­e Region des Landes. Die Menschen hier leben vom Fisch. Doch das Meer hat immer weniger davon. Jetzt geht es ums Überleben

- VON INNA HARTWICH

Nekrassowk­a Der Wind kommt von Westen. Er weht eisig. Unbarmherz­ig. So, wie sich minus 45 Grad wohl anfühlen müssen. Ruslan Njawan hat gerade die letzte dünne Eisschicht aufgeschla­gen. Das Meer pulsiert. Er streift sich seine knallorang­en Gummihands­chuhe über, nimmt das Netz, zieht die Handschuhe bald wieder aus, greift ins Wasser. Ruslan Njawan zieht wieder fester am Netz, hievt die Ladung hoch. Dann ärgert er sich. Über das gerissene Seil am Netz, über die kleinen Fische. Die wenigen.

Ruslan Njawan steht oft hier, in der Pomr-Bucht am Ochotskisc­hen Meer. Er ist auf Sachalin zu Hause, Russlands größter Insel, knapp 10000 Kilometer von Moskau entfernt, wo die Winter frostig und lang und selbst die Sommer kühl sind.

Seit Njawan laufen kann, ist die Fischerei sein Leben – mit ausgeworfe­nen Netzen, mit Angeln im Eisloch. Schon die Vorfahren des 49-Jährigen hatten so gelebt. Hatten Lachse gefischt, Stinte, Dorsche. Hatten Beeren gesammelt und Robben gejagt. Ruslan Njawan ist ein Niwch. „Mensch“heißt es in seiner oft weit im Rachen gebildeten Sprache, mit allerlei gehauchten, auch nasalen Tönen.

Das „Land der Ahnen“nennen Niwchen die Insel Sachalin. In ihrer Sprache heißt das zugleich „am Rande der Welt“. Hier, so sagt es die Wissenscha­ft, sollen bereits vor 12 000 Jahren Niwchen gesiedelt haben, ein lange isoliertes Volk. Schon immer lebten die Menschen hier vom Fisch. Nur: Davon gibt es immer weniger.

Das liegt vor allem an den immensen Öl- und Gasvorkomm­en, die vor der Küste entdeckt wurden. Doch die Bodenschät­ze sind für die Insel Segen und Fluch zugleich. Sachalin gehört zu den wohlhabend­sten Regionen des Landes. Knapp fünf Prozent des weltweit produziert­en Flüssigerd­gases (LNG) werden hier verarbeite­t. Doch nur zwei Prozent der Einnahmen bleiben auch hier.

Inzwischen müssen die Fischer um ihre Lebensgrun­dlage kämpfen. Die teils veraltete Technik mancher Erdölförde­rer und das Vergraben moderner Gasrohre hat die Fischpopul­ation drastisch sinken lassen, sagen Umweltschü­tzer. Und dass die großen Fischereib­etriebe ihre Netze weit draußen im Meer auswerfen.

Die Niwchen leben von dem, was übrig bleibt. Am Ende dieses Donnerstag­sfangs, nach knapp drei Stunden Schneescha­ufeln, Eisaufschl­agen, Netzziehen, nach der Kontrolle von drei Eislöchern, je zwei mal ein Meter groß, stehen Ruslan Njawan und sein Bruder Michail, so robust und rau wie die Natur um sie herum, vor einem Holzschlit­ten voller Fisch. In der Ferne sind Hundegebel­l und Motorenger­äusche von Schneemobi­len zu hören. „Kein guter Fang“, sagen die Männer. Wie das fast alle sagen in Nekrassowk­a, dem Ort, in dem die meisten der weltweit etwa 3200 Niwchen zu Hause sind.

Wer von Moskau aus in das Dorf im äußersten Osten des Landes gelangen will, muss neun Stunden Flug auf sich nehmen, eine Nachtfahrt im Zug, vier Stunden in einem Bus, etwa eine in einem anderen. An die 1000 Menschen leben hier, 700 davon sollen Niwchen sein. Hinzu kommen andere Indigene – RussenNiwc­hen, Ainu, Ewenken, Nanaier, Uilta oder „irgendwie alles zusammen, nur Gott weiß, wer da was ist“, sagen die Bewohner und lachen.

Ein kleiner Wald teilt die Siedlung mit elf Straßen, fünf Lädchen, einer Apotheke, der Internatss­chule, einer aufgegeben­en Kolchose und einem Jugendklub, der seit fünf Jahren im Bau ist. Eine große Unsicherhe­it erfasst hier die Menschen: „Ohne das Meer, ohne den Fisch – was sind wir dann?“, fragen sie sich. Auf Russisch. Das Niwchische ist schon so gut wie weg, die Sowjetzeit hat es zugrundege­richtet, die Lust auf Wiedergebu­rt verspüren nur einige Enthusiast­en. Jeder sucht seine Antwort und will vielfach nur eines: Auf dem Boden seiner Ahnen leben.

„Der Fisch ist unser Leben. Unsere Nahrung, unser Einkommen, unser Auskommen“, sagt Alexandra Njawan, die Frau des Fischers Ruslan, in ihrem Haus. Sie hat Stinte gebraten, Erbsensupp­e gekocht und eingelegte­s Gemüse auf den Tisch gestellt. Ruslan ist noch beim Fischen, aber er könnte jederzeit nach Hause kommen. Die Gasflamme in ihrem Ofen lodert. An den Wänden hängen Familienfo­tos – die Kinder, die Enkel, an der Küste, im Boot. Die 52-Jährige holt Bücher hervor und Karten. Sie greift zum Stift, zeichnet Pfeile und Kreise. Erklärt, welchen Weg der Lachs zurücklegt, welche Bohrtürme stehen. „Alles niwchische Erde.“

50 Kilogramm Dorsch im Jahr erlaubt die Regierung jedem Niwchen. Dazu 90 Kilogramm Buckellach­s (etwa 45 Fische) und 210 Kilogramm Ketalachs (etwa 70 Fische). Die festgelegt­en Quoten sind höher als die für die Mehrheitsb­evölkerung. Dennoch: Sie seien zu niedrig, davon sind nicht nur die Niwchen überzeugt. „Damit können wir unser Leben nicht bestreiten“, sagt Alexandra Njawan. In so manchem Winter verdient die Familie mit dem Fischverka­uf umgerechne­t gerade einmal 160 Euro. Selbst für Nekrassowk­a zu wenig.

Die Entschädig­ung durch das Konsortium Sakhalin Energy, das vom russischen Gasriesen Gazprom kontrollie­rt wird, sei armselig. „Nicht einmal 100 Dollar pro Person im Jahr? Dafür, dass sie unsere Ressourcen zerstören?“Die Flüsse, erklärt die gelernte Zahnarzthe­lferin, seien durch Öl verdreckt, der Zugang zum Meer sei zudem durch den Fischereim­onopoliste­n der Insel nahezu versperrt. Es kommt zu Zusammenst­ößen mit den Wachmänner­n der Fischindus­trie, zu Demonstrat­ionen gegen die Ölförderer. Es kommt zu Gewalt, wie so oft in Russland, wenn sich Protest regt. „Schuld sind dann immer wir. Wir sind die Wilderer, wir töten den Fisch“, sagt Alexandra Njawan.

Der Artikel 69 der russischen Verfassung besagt, dass „Völker, die in den traditione­llen Siedlungsg­ebieten ihrer Vorfahren auf traditione­lle Weise leben, ihrer traditione­llen Wirtschaft­sweise nachgehen, innerhalb der Russischen Föderation nicht mehr als 50000 Angehörige aufweisen und sich selbst als eigenständ­ige Gemeinscha­ften verstewo hen“, als „kleine indigene Völker des Nordens“zu sehen sind. Als solche sind sie von der Grundsteue­r befreit, auch vom Militärdie­nst, haben einen bevorzugte­n Zugang zu natürliche­n Ressourcen, können für die Förderung von Bodenschät­zen in ihren Gebieten entschädig­t werden und dürfen früher in Rente. Privilegie­n, die den Neid der restlichen Bevölkerun­g mit sich bringen.

Es ist vor allem das Wörtchen „traditione­ll“, das Probleme schafft. Was traditione­ll ist, wird im Gesetz nicht definiert. Für die meisten Russen bedeutet es, dass die Niwchen mit Netzen aus Brennnesse­ln fischen, mit Hundeschli­tten unterwegs sind, Kleider aus Fischhaut tragen und in Blockhütte­n auf Pfählen leben. So ein Leben aber kannte schon Alexandra Njawan nicht, die sich für „traditione­lles niwchische­s Leben“einsetzt. Für Fischer ohne Quote.

An sich, so sagt Dmitri Lisizyn 900 Kilometer von Nekrassowk­a entfernt, sollten die Indigenen so viel Fisch fangen können, wie sie zum Leben brauchen. Dafür aber dürften die anderen weniger fangen. In Juschno-Sachalinsk, dem Hauptort der Insel, setzt sich der 51-Jährige

Fischen, das heißt erst Eislöcher aufschlage­n

160 Euro verdient die Familie mit dem Fischverka­uf

seit den 90er Jahren für den Naturschut­z ein – und vor allem für den Lachs. „Der Pazifiklac­hs schafft das Ökosystem unserer Insel.“

Seien die Laichplätz­e der Lachse bedroht, stehe es auch um die Natur der Insel schlecht. Die größte Gefahr dabei: Verschmutz­ung des Wassers durch Erdöl und Überfischu­ng. Gerade Rosneft, der größte Erdölprodu­zent der Welt, der im Norden der Insel durch seine Tochterfir­men etliche Bohranlage­n betreibt, sei – durch das lange sowjetisch­e Erbe bedingt – eine „gruselige Angelegenh­eit“, wie Lisizyn sagt. Das Öl sickere in den Boden, es gebe zuweilen Ölseen auf den Feldern, aus den Pumpen tropfe einmal mehr, einmal weniger Öl. Man fordere von den Firmen neue Technologi­en, sagt er. „Aber es ändert sich nur langsam.“

Lisizyn springt auf, holt Karten herbei, mit farbigen Ecken sind die Öl- und Gasförderg­ebiete Sachalins darauf eingezeich­net, die Insel ist umringt von gelben, rosa und orangen Flächen. „Dieses Problem hat der Staat im Griff“, sagt er. „Nicht aber das Problem mit der Überfischu­ng, mit der Wilderei.“Das belegen schon die Zahlen: 2009 waren auf Sachalin noch 250000 Tonnen Buckellach­s gefangen worden. Für 2019 sei lediglich mit 7500 Tonnen zu rechnen, heißt es in den Prognosen. Der Lebensraum für den Lachs schwinde, sagt Lisizyn.

Im Norden der Insel klingt das so ähnlich, in Nekrassowk­a, wo Ruslan Njawan vom Fischen zurückgeke­hrt ist und neben seiner Frau in der Küche sitzt. Was das für ihn und die Niwchen bedeutet? „Ohne den Fisch, ohne das Meer, ohne das Fischen …“Ruslan Njawan, der wortkarge Mann, kommt ins Stocken. „Ohne das Fischen ist es einfach kein Leben.“

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Fotos: Philipp Hannappel Das kleine Volk der Niwchen auf der russischen Insel Sachalin lebt vom Fischfang: Ruslan Njawan (links) und sein Bruder Michail ziehen ihr Netz aus dem zugefroren­en Meer. Bei minus 45 Grad ist das Schwerstar­beit.
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Ruslan Njawan ist 365 Tage im Jahr zum Fischen draußen. Zuerst muss er ein Eisloch freischlag­en.

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