Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (73)
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat. © Projekt Gutenberg
Nein, es ist nichts im Zuge, man sei ganz beruhigt. So wird der Vorwand gewissenhafte Verrichtung.
Die fünf Männer klimmen schweigend eine steilgewundene Holztreppe empor, der Inspektor schließt eine eiserne Tür auf, es geht durch einen langen, fast kreisförmig gewundenen Gang, in der Höhe sind kleine vergitterte, nach außen verengte Fenster, abermals klirren die Schlüssel des Inspektors, eine zweite Eisentür öffnet sich, man tritt in einen der Arbeitssäle. Herr von Andergast zieht unwillkürlich sein Taschentuch und drückt es an den Mund. Ein Geruch schlägt ihm entgegen wie aus einem Tierzwinger. Er kennt den Geruch. Als junger Beamter hat er vor solchen Besuchen an Herzbeklemmungen gelitten, weil ihn der Geruch jedesmal einer Ohnmacht nahe brachte. Es riecht nach muffigen Kleidern, nach stockigem, warmem Leim, nach ranzigem Fett, nach schimmliger Mauer, nach Menschenschweiß und
üblem Atem. Es ist ein rauher Tag, die Fenster sind in allen drei Sälen geschlossen. Etwa hundertfünfzig Männer jeden Alters bewegen sich teils frei, teils in hürdenartig mit Baststricken abgesperrten Pferchen. Sie flechten Strohmatten, drehen Seile, einige schustern, einige arbeiten an Hobelbänken. Ein gekrümmt dastehender Mensch nähert sich, kaum daß er seiner gewahr wird, mit schleichendem Schritt und geheimnisvoller Miene dem Vorsteher, zupft ihn am Ärmel und flüstert ihm ins Ohr, das mit dem Bohrwurm in seinem Gehirn werde nicht besser, er leide täglich ärgere Schmerzen. Der Vorsteher gibt sich den Anschein, als nähme er seine Klagen ernst, und wechselt einen wissenden Blick mit dem Inspektor, der die Achseln zuckt. Es besteht kein Zweifel, der Mann simuliert, gleichwohl gerät er in einen Zustand gefährlicher Erregung, wenn man ihm nicht glaubt und ihm Vorwürfe macht. Vielleicht hat er sich die fixe Idee vom Bohrwurm im Gehirn nur zurechtgelegt, um sich Beachtung zu erzwingen und vor sich selber was zu gelten. Der Inspektor ruft einen gewissen Buschfeld heran, der sich am Morgen eine Aufsässigkeit hat zuschulden kommen lassen, und stellt ihn leise und in einer netten Manier, gleichsam im Namen der gesunden Vernunft, zur Rede. Buschfeld hat während des Umsturzes 1918 den General Winkler in Darmstadt erschossen, nachdem er ihn zuvor geohrfeigt, aus keinem andern Grund, als weil er eben General war. Im übrigen war er ein harmloser Mensch, durchaus nicht unbeliebt. Buschfeld hat ein sonderbares Lächeln, während er sich rechtfertigt, fast wie ein Bub, dem man seine Renitenz vorwirft, halb beschämt, halb höhnisch, dabei blitzen seine herrlichen großen Zähne in dem wohlgebildeten, nur von langen Bartstoppeln verunzierten Gesicht mit dem stark entwickelten Kinn. Herr von Andergast tritt heran und hört zu. Wie alle hier, wenn ihnen bloß zu reden verstattet ist, kommt Buschfeld schon nach drei Sätzen auf seine Straftat und Verurteilung und beweist mit vielen, offenbar sorgsam überlegten Argumenten, daß er unschuldig ist. Da er Publikum um sich sieht, legt er sich ins Zeug, schildert die Situation, erklärt das Mißverständnis, dessen Opfer er geworden. Er lächelt fortwährend mit den herrlichen, großen Zähnen, und Herr von Andergast blickt in seine großen, stumpfen, wie Nußkerne braunen Augen. Es ist eine Begierde in den Augen, unhemmbar, verschlingend, beim leisesten Anpochen des Gedankens verrückt machend: das Draußen. Wenn er „draußen“sagt, so meint er Welt, Leben, Freiheit, Baum, Wiese, Weib, Himmel, Wirtshaus, ein glühendes Konglomerat seliger Dinge. Der fremde Herr da vor ihm, er kommt von „draußen“, er hat infolgedessen einen Nimbus, einen berauschenden Duft, etwas Unvergleichliches an Möglichkeiten. Er starrt ihn an und scheint verwundert zu fragen: Wie, du kommst von „draußen“und gehst wieder „hinaus“und bist nicht närrisch vor Glück? Das haben sie alle, jeder hat die verschlingende, verrückt machende Vorstellung vom „Draußen“in den Augen, die etwas anderes ist als Sehnsucht, mehr, viel mehr, jenseits davon, erhabener, finsterer, sternhafter, als irgendeine Sehnsucht auf Erden sein kann. Es gibt Augen, in denen sie nahezu erstorben ist, zu viel Zeit ist vergangen, der Geist hat die Bilder verloren, sie rascheln tot um ihn her wie verdorrte Blätter, dann ist auch der Mann selber verdorrt. Da ist ein fünfzigjähriger Mensch mit einem pechschwarzen Rahmenbart um das ganze seifig glänzende fahle Gesicht, eine Köhlerfigur. Er befindet sich seit neun Jahren im Hause.Er hat seinen Dienstgeber erschlagen, weil ihm der die zweitausend Mark vorenthalten hat, die er sich in vieljähriger Arbeit erspart und vertrauensvoll bei ihm hinterlegt hatte. Auf Verlangen erzählt er die Geschichte in seiner rheinischen Mundart, tiefer Atem hebt dabei seine Brust, der mächtige verbogene Körper erlebt die unerträgliche Unbill wie in einem fernen Echo wieder, das ihn durchschüttelt und durchtönt: wie er das Geld gebraucht und es gefordert, einmal, zweimal, fünfmal, wie der Bauer sich ausredet, sich herumdrückt, ihn vertröstet, wie er sich endlich überzeugen muß, das Geld ist nicht mehr vorhanden. Was kann da helfen? Kein Gott, kein Richter kann helfen, den Mann muß man kaltmachen, sonst frißt es einem das Herz ab. Verstörte Seele. Zermalmte, irre Seele. Neben dem arbeitet Schergentz, ein fünfundzwanzigjähriger Bursche, Brandstifter. Man hat niemals erfahren, weshalb er das Feuer gelegt hat, er ist ein braver Sohn und fleißiger Arbeiter gewesen. Eines Nachts zündet er die Nachbarscheune an, drei Menschen verbrennen. Warum? Niemand weiß es, er hat seit der Stunde seiner Verhaftung keine Silbe mehr gesprochen. Vater, Mutter, Zeugen, Untersuchungsrichter, Gendarme, Richter, Verteidiger, Geschworene haben sich vergeblich bemüht, keine Silbe, er ist stumm. Auch im Schlaf spricht er nicht, wenn er allein ist nicht, niemals vergißt er sich. Der Vorsteher redet ihm auch jetzt wieder zu, aus den Mienen des Inspektors und der Aufseher erkennt man, wie aussichtslos der Versuch ist. Herr von Andergast legt ihm schwer die Hand auf die Schulter, und den Blick der veilchenblauen Augen in die verstockt lohenden des Sträflings einbohrend, sagt er: „Na, Mann, was soll es denn eigentlich? Wem zuliebe? Ihnen selber sicherlich nicht? Na also!“Aber diese Lippen sind versiegelt.
Ein Mithäftling, einer von der „Intelligenzzelle“, hat vor Monaten die Meinung geäußert: In der ersten Minute nach der Entlassung wird er wieder sprechen, vorher nicht. Und so verrichten seine Hände die gewohnte Arbeit, während die düster geschlossenen Augen, schweigend auch sie, an den Männern vorüberschauen. Kein größerer Gegensatz als der zwischen ihm und seinem Nebenmann, dem jungen Giftmörder. Er hat den Vater seiner Braut mit Arsenik aus dem Weg geräumt, weil er die Heirat verhindern gewollt und sich weigerte, der Tochter eine Mitgift auszuzahlen.