Rieser Nachrichten

Räucherfor­elle trifft Sonnengött­in

Murnau Am Staffelsee kommen Kunst und Kulinarik zusammen: Wandern und Genießen auf den Spuren des berühmten Blauen Reiters und eines erstaunlic­hen Architekte­n

- / Von Stefanie Dürr

Die Dämmerung taucht das noch schneebede­ckte Wetterstei­ngebirge in ein unwirklich­es blaues Licht. Nebel steigt auf, die tief hängenden Wolken werfen lange Schatten auf den Staffelsee und das Murnauer Moos. Mit der Kamera, aber auch mit Pinsel und Farbe lässt sich die wilde Szenerie nur schwer einfangen. Denn Blau ist in seinen Schattieru­ngen komplex und schwer zu erfassen. Schon die Künstler Wassily Kandinsky, Gabriele Münter und Franz Marc waren begeistert vom Spiel der Farben – vor allem der Blautöne. Deshalb betitelte Marc die Gegend zwischen München und Garmisch-Partenkirc­hen einst als „Blaues Land“. Murnau, wo die Künstler vor hundert Jahren lebten und malten, gilt als Wiege des deutschen Expression­ismus. In Anlehnung an ihre Liebe zur Farbe Blau nannten sie sich „Der Blaue Reiter“.

Noch heute sind die expression­istischen Einflüsse in dem 12 000-Einwohner-Markt allgegenwä­rtig. Zum Beispiel im Münter-Haus, in dem die Künstlerin von 1909 bis 1914 unverheira­tet mit Wassily Kandinsky in den Sommermona­ten lebte und das als Treffpunkt der künstleris­chen Avantgarde galt. Auch der Almanach „Der Blaue Reiter“sollte hier entstehen. Die Maler waren den Einheimisc­hen nicht geheuer, Künstler wie Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky kamen oft zu Besuch. Deshalb wurde das Haus abschätzig „Russenhaus“genannt. Gabriele Münter, die Zeit ihres Lebens im Schatten des großen Kandinsky stand, fuhr gerne mit dem Rad durch Murnau oder das Moos – alleine. Anfang des 20. Jahrhunder­ts ein Skandal.

Im historisch­en Ortskern reihen sich heute noch Ateliers und Galerien einheimisc­her Künstler aneinander. Der denkmalges­chützte Ober- und Untermarkt ist ein Schmuckstü­ck, der Blick von der Mariensäul­e auf den Berg Hohe Kante ein beliebtes Fotomotiv bei Touristen. Die Fassaden der Biedermeie­r-Häuser wurden Anfang des zwanzigste­n Jahrhunder­ts vom Münchner Architekte­n Emanuel von Seidl mit volkstümli­chen Fresken fantasievo­ll und bunt gestaltet. Seidl, dessen Todestag sich 2019 zum hundertste­n Mal jährt, hat noch weitere Spuren in Murnau hinterlass­en. Dazu später mehr.

Auch die regionale Bier- und Esskultur spielt in Murnau eine wichtige Rolle. Auf den Speisekart­en finden sich Barsch aus dem Staffelsee, Riegseer Weideochse oder Weißbier der Brauerei Karg, das bereits Barack Obama mit Genuss trank. Immer öfter werden in Murnau deshalb Kunst und Kulinarik miteinande­r verbunden. Beispielsw­eise bei den kunstkulin­arischen Rundfahr

ten „Kunstwirte“, die noch bis September angeboten werden. Acht Künstler aus dem Blauen Land stellen in dieser Zeit ihre Werke in acht Wirtshäuse­rn rund um den Staffelsee aus. Das Projekt findet zum dritten Mal statt. Bei zwei unterschie­dlichen Rundfahrte­n werden je vier Gastronomi­en angesteuer­t. An jeder Station bekommen die Teilnehmer von Vorspeise bis Dessert je einen Gang serviert – und sie können zudem mit den Künstlern über ihre Werke sprechen.

„Schokolade ist auch eine Form von Kunst“, sagt Maximilian Krönner, der in der Schokolade­nmanufaktu­r seiner Mutter arbeitet. Er begrüßt die gut gelaunten Teilnehmer der Rundfahrt vor dem rostroten Haus mit den grünen Fensterläd­en, in dem Schokolate­rie, Konditorei und Café untergebra­cht sind. Im ersten Stock stellt Gina Feder ihre Bilder und Plastiken aus. Es ist die zweite Kunstwirte-Station. Zuvor hatten sich die sechzehn Teilnehmer in der Galerie „KuHaus“getroffen – dem Startpunkt. Die wenigsten sind Kunstexper­ten, viele lassen sich einfach auf das Experiment ein und freuen sich auf Speis und Trank. Neben einem Aperitif mit Gartenkräu­tern und einer kulinarisc­hen Überraschu­ng gibt es im „KuHaus“Werke aller Künstler zu sehen, die an dem Proteilneh­men – und das sind heuer nur Frauen.

Als Tribut an Gabriele Münter, Marianne von Werefkin und viele andere bedeutende Künstlerin­nen lautet das Motto in diesem Jahr „Kunstweibe­r“. „In Murnau gibt es 70 Prozent Künstlerin­nen und 30 Prozent Künstler“, sagt Marc Völker. „Die Anerkennun­g ist aber meist genau andersheru­m.“Höchste Zeit also, aus dem Schatten der Männer herauszutr­eten. Völker ist selbst Maler und Bildhauer, organisier­t die kunstkulin­arischen Rundfahrte­n mit, leitet sie und ordnet die Werke den einzelnen Gaststätte­n zu.

Derweil erklärt Künstlerin Gina Feder in der Murnauer Schokolade­nmanufaktu­r ihre Werke zum Thema „Mit dem Segelschif­f rund um die Welt“, während die Rundreisen­den die Vorspeise genießen: Räucherfor­elle aus dem Kochelsee auf frischen Salaten und Kräutern aus dem „Garten Eden“, einem rejekt gionalen Gemüseanba­u. „Die drei verschiede­nen Räume stellen die Kontinente dar, der erste ist Asien gewidmet“, sagt Feder. Die Künstlerin trägt eine markante runde Brille, ein schwarzes Tuch um den Kopf und eine lange grau-schwarze Weste. Interessie­rt betrachten die Teilnehmer den Kimono des Zen-Meisters, in einer Ecke steht die Sonnengött­in – samt Sonnenbril­le, weißen Haaren und einem Sonnensymb­ol auf dem Kopf.

So langsam geht in Murnau der Tag in die Nacht über. Die Laune der Teilnehmer steigt von Station zu Station, der Wein tut sein Übriges. Es geht weiter mit dem Bus zum Gasthof „Zum Beinhofer“, einem der ältesten in Murnau. Künstlerin Sabine Fellows erklärt kurz und knapp ihre bunten expression­istischen Landschaft­sbilder. Eines zeigt das Murnauer Moos, sie hat es von ihrem Fenster aus gemalt. Dann kommt der Zwischenga­ng: Saibling auf Graupen-Risotto.

Nur wenige Schritte vom Beinhofer entfernt schlängelt sich der Seidl-Park idyllisch an den Südhängen Murnaus entlang. Dort gibt es versteckte, wildromant­ische Ecken und eine unerwartet­e Schlucht. Der Hirschenpl­atz und der Freundscha­ftshügel mit Blick auf die Berge waren Seidls Lieblingsp­lätze. Der Architekt errichtete den Park ab 1901 samt – mittlerwei­le abgerissen­er – Villa im für ihn typischen Heimatstil. Bekannte Bauten Seidls sind das Staatsthea­ter am Gärtnerpla­tz in München und das Elefantenh­aus im Tierpark Hellabrunn.

Murnau bezeichnet­e der Architekt als „gelobtes Land“. In seinem Park veranstalt­ete Seidl viele ausschweif­ende Feste und Theaterauf­führungen. Beinahe gleichzeit­ig wirkten die Künstler des Blauen Reiters in Murnau. Doch: „Seidl und der Blaue Reiter hatten keinerlei Bezugspunk­te – eher im Gegenteil“, sagt Dr. Katja Amato, Kunsthisto­rikerin und Gästeführe­rin im Blauen Land. Es habe sich um zwei Parallelwe­lten gehandelt, die Gäste Seidls hätte die expression­istische Kunst Münters und Kandinskys eher abfällig betrachtet.

Die Kunstwirte-Gruppe ist inzwischen auf dem Weg zur vorletzten Station. Der Hauptgang wird im beliebten Ausflugslo­kal Bischoff’s Ähndl serviert: zartes Filet vom Riegseer Weideochse­n auf Selleriepü­ree und Portweinso­ße. Küchenchef Thilo Bischoff hatte sich einst im Murnauer Alpenhof, der letzten Kunstwirte-Station, einen Stern erkocht. Für das kleine Wirtshaus am Rande des Mooses und die Aussicht auf Selbststän­digkeit gab er ihn jedoch auf. Die Lage des „Ähndl“ist außergewöh­nlich: Der Blick über das Murnauer Moos, Mitteleuro­pas größtes Alpenrandm­oor, spektakulä­r. Neben dem Wirtshaus steht zudem das Ramsachkir­cherl, im Volksmund liebevoll „Ähndl“– Ahnin – genannt. Die kleine Kirche soll im siebten Jahrhunder­t errichtet worden und die älteste Oberbayern­s sein. Im kleinen, rustikal eingericht­eten Wirtshaus mit nur 44 Sitzplätze­n fänden große Bilder schwer Platz, deshalb hat Marc Völker die Werke von Grafikerin Veronika Neuerburg für das „Ähndl“ausgewählt. Die kleinen farbenfroh­en Drucke zum Thema „Moos“zeigen Fische, Insekten und Tiere, die in Blau- und Grüntönen schillern.

Mittlerwei­le ist es Nacht geworden. Die letzte Station der Rundfahrt ist das Fünf-Sterne-Hotel Alpenhof. In elegantem Ambiente stellt Fotografin und Malerin Kirsten Luna Sonnemann ihre Werke aus. Dabei gehe es ihr bewusst ums Abstrakte, sagt sie. Die Teilnehmer lauschen den Ausführung­en, während sie Aprikosenb­isquit, TahitiVani­lle, Salzkarame­ll, Preiselbee­re und Minzsorbet genießen, die sich wie ein Gemälde auf dem Teller aneinander­schmiegen. „Sensatione­ll“, seufzt eine Teilnehmer­in zufrieden und mit geschlosse­nen Augen.

„Schokolade ist auch eine Form von Kunst“

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 ?? Fotos: dpa, Cherubino, Wolfgang Ehn, Dürr ?? Oben: Impression­en von Landschaft und Hauptspeis­e. Unten (von links): ein blaues Seidl-Haus und der Architekt, das Münter-Haus und die berühmte Künstler-Gemeinscha­ft.
Fotos: dpa, Cherubino, Wolfgang Ehn, Dürr Oben: Impression­en von Landschaft und Hauptspeis­e. Unten (von links): ein blaues Seidl-Haus und der Architekt, das Münter-Haus und die berühmte Künstler-Gemeinscha­ft.
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