Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (122)
Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchieren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwalt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlich ereignet hat. © Projekt Gutenberg
Schon möglich“, sagte Maurizius verschlossen. „Und dann?“forschte Herr von Andergast mit schier übermenschlicher Anstrengung, gleichmütig oder höchstens äußerlich interessiert zu erscheinen. Er zog sogar die Uhr aus der Weste, ließ aber den Deckel nicht springen, sondern schob sie langsam in die Tasche zurück. „Dann?“echote Maurizius, sandte von unten her einen hämisch-verstockten Blick zu dem Frager und zuckte die Achseln, „dann… da müssen Sie sich schon an Ihre Akten halten. Die können besser darüber Auskunft geben.“Aber nach einem finstern Schweigen, während die mädchenhaft kleinen Zähne nervös an der Unterlippe nagten, entpreßte sich’s ihm: „Alles war ja gegen sie verschworen… da war kein Fluchtloch mehr… alle ihre Quäler dicht an ihr dran… das Maß war voll… bei keinem Einsicht und Mitleid… wozu hat sie auch noch den Waremme rufen müssen… na, der brauchte ja nur noch von fern den Hebelknopf zu drücken…
ich, mein Gott, zu spät… zu spät …“
Er hielt inne, mit totenbleichem Schrecken, wankte, hielt sich an der Mauer fest. Herr von Andergast schritt, mit derselben bleiernen Trägheit, auf ihn zu und fing seinen Blick. Sie sahen einander volle zwanzig Sekunden starr in die Augen.
Maurizius hob die Hand. Scheu abwehrend. Herr von Andergast gewahrte, daß die Fingernägel zerbissen waren. Es war offenbar eine Wirkung der Einsamkeit und der einsamen Grübeleien. „Von wem hatte sie den Revolver?“flüsterte er heiser. Maurizius zuckte zusammen. „Ja, denken Sie denn, ich hätte was gesehen?“fuhr er wild auf: „ich hab nichts gesehen, nichts, absolut nichts… das ist es ja… nichts…“Herr von Andergast senkte resigniert den Kopf. „Das ist es ja… nichts, nichts“, wiederholte Maurizius mit einer hoffnungslosen Gebärde. „Und Sie? Sie selbst? hatten Sie einen Revolver oder hatten Sie keinen?“fuhr Herr von Andergast mit vertrockneter Stimme unerschütterlich fort. Maurizius stieß ein kurzes Gelächter aus. „Es ist eine andere Zeit“, antwortete er änigmatisch, „ich bin nicht mehr sechsundzwanzig, ich bin fünfundvierzig.“Dabei zwinkerte er plötzlich mit den Lidern, genau wie damals im Gerichtssaal, vor neunzehn Jahren. Abermaliges Blick-in-Blick-Bohren. „Gut, ich nehme es zur Kenntnis“, sagte Herr von Andergast mit dem sonderbaren Gefühl, daß etwas in seinem Rückgrat knirschte. Maurizius sieht teilnahmslos zu, wie er den Hut nimmt, an der Tür dem Wärter das Zeichen gibt und die Zelle verläßt. Ein zweiter Wärter erscheint mit einem Blechtopf. Es ist das Mittagessen für den Sträfling 357. Dicke Kohlsuppe, in welcher einige Fleischfetzen schwimmen, wie schwärzliche Holzwurzeln auf einem gelben Tümpel.