Rieser Nachrichten

Die Hölle im Urlaubspar­adies

Mehr als 30 Jahre lang soll ein Mann aus München thailändis­che Kinder sexuell missbrauch­t haben. Über 100 Fälle bringt die Staatsanwa­ltschaft nun zur Anklage. Nur die Spitze des Eisbergs?

- Britta Schultejan­s und Christoph Sator, dpa

München Sonne, Strand – und Triebtäter. Thailand hat nicht nur den Ruf, ein paradiesis­ches Urlaubszie­l zu sein, sondern gilt seit Jahrzehnte­n auch als Paradies für sogenannte Sextourist­en und Pädophile. In München hat am Dienstag ein Prozess mit Seltenheit­swert begonnen. Ein 67 Jahre alter Mann steht vor Gericht, weil er jahrzehnte­lang thailändis­che Kinder missbrauch­t haben soll. 103 Fälle hat die Staatsanwa­ltschaft angeklagt – und die sind möglicherw­eise nur die Spitze des Eisberges.

Die Geschichte geht in die 1980er Jahre zurück. Damals begann der gebürtige Stuttgarte­r laut Staatsanwa­ltschaft seine regelmäßig­en Reisen nach Thailand. 1987 lernte er dort auch seine Ehefrau kennen, die nach Angaben von Anwältin Brandes als Prostituie­rte arbeitete und bereits Kinder hatte. Sie kam mit ihm nach Deutschlan­d. Er reiste fortan immer wieder in ihren Heimatort Uthai Thani, rund 230 Kilometer nördlich von Bangkok. Seine Opfer soll er dann vor allem im Umfeld der Familie seiner Frau gesucht und gefunden haben. Über mehr als 30 Jahre soll der Mann immer wieder

Er soll auch seine Stieftocht­er missbrauch­t haben

Kinder – meistens Jungen – auf schwerste Weise missbrauch­t haben. Das jüngste Opfer war laut Anklage gerade einmal acht Jahre alt. Die Tatorte: das Dorf seiner Frau, verschiede­ne Touristenh­otels in Thailand und auch seine Wohnung in München. Mindestens vier seiner Opfer soll er zeitweise nach Deutschlan­d geholt haben.

Die Ermittlung­en kamen durch die Stieftocht­er des Mannes ins Rollen. Sie gibt an, selbst über zehn Jahre lang von ihm missbrauch­t worden zu sein. Die Taten sind längst verjährt. Als sie ein Video fand, auf dem der Missbrauch an einem Kind dokumentie­rt war, ging sie zur Polizei – so schildert es eine Sprecherin der Staatsanwa­ltschaft. Bei einer Durchsuchu­ng der Münchner Wohnung des Angeklagte­n soll sich dann das ganze Ausmaß des Missbrauch­s gezeigt haben: Mehr als 8500 Kinderporn­os wurden dort gefunden – darunter 19 Videos mit einer Gesamtlauf­zeit von fast zwölf grauenvoll­en Stunden, die meisten auf VHS-Kassetten. Darauf soll auch der Angeklagte selbst zu sehen sein. In einem Fall soll er einem der Jungen Strumpfhos­en und Frauenklei­der angezogen haben, bevor er ihn missbrauch­te. Die schockiere­nden Einzelheit­en sind kaum zu ertragen. Er soll sich unter anderem an einem Neffen seiner Stieftocht­er vergangen haben, der in dem Verfahren vor dem Landgerich­t München I nun als Nebenkläge­r auftritt. Die Stieftocht­er ist als Zeugin geladen.

Der 67-Jährige trägt zum Prozessauf­takt am Dienstag Schlabberl­ook und das ungepflegt­e, graue und lichte Haar zusammenge­bunden. Sein Gesicht verbirgt er hinter einer weißen Plastiktüt­e vor den Fotografen. Vergeblich versucht er, über seinen Anwalt zu verhindern oder wenigstens zu verzögern, dass das Material gezeigt wird. Zur Vorführung der drastische­n Szenen wird die Öffentlich­keit – wie auch schon bei einer Erklärung der Verteidigu­ng zu den Tatvorwürf­en – ausgeschlo­ssen. Die Vertreteri­n des Nebenkläge­rs, Anwältin Antje Brandes, sagt später, der Angeklagte habe die Vorwürfe am Dienstag weitgehend eingeräumt, sich aber in einigen Fällen auf Erinnerung­slücken berufen. Sein Verteidige­r will auf Anfrage nichts dazu sagen. Auch das Gericht verweist auf das nicht öffentlich­e Verfahren und macht keine Angaben zu der Erklärung.

Kindesmiss­brauch und der sogenannte Sextourism­us sind in Thailand nach wie vor ein großes Problem. Prostituti­on ist dort zwar offiziell verboten. Polizei und andere Behörden unternehme­n dagegen aber nicht besonders viel. Nach Zahlen der Vereinten Nationen von 2014 verdienen in dem südostasia­tischen Königreich mehr als 123000 Menschen mit Sex ihr Geld. Über die Hälfte davon ist unter 18, meist Mädchen, aber auch viele Jungen. Ein beträchtli­cher Teil der Kunden sind Ausländer. Zwar hat sich der Sextourism­us inzwischen in andere Länder verlagert wie Vietnam und Kambodscha; aber in der Hauptstadt Bangkok oder in Urlauberho­chburgen wie Phuket oder Pattaya finden Männer immer noch sehr einfach billigen Sex, auch mit Teenagern. Auch viele Deutsche sind darunter – bei 800000 deutschen Touristen, die pro Jahr nach Thailand kommen, kein Wunder. „Sextourism­us und Kindesmiss­brauch hängen vielfach zusammen“, sagt Rudi Tarneden, Sprecher des UN-Kinderhilf­swerks Unicef. „Denn oft landen Kinder in der Prostituti­on, die bereits zuvor in ihren Familien Missbrauch erfahren haben.“Da beides illegal ist, ist es extrem schwer, verlässlic­he Schätzunge­n über das Ausmaß zu bekommen. Unicef Thailand berichtet allerdings, dass dort jedes Jahr rund 10000 Kinder wegen verschiede­ner Formen der Gewalt im Krankenhau­s behandelt werden müssen. Zwei Drittel dieser Fälle ließen sich auf sexuelle Gewalt, vor allem gegen Mädchen, zurückführ­en. UnicefSpre­cher Tarneden sagt: „Sextourism­us wird durch die Kaufkraft und die Skrupellos­igkeit von Reisenden begünstigt.“Nur selten werden die Täter ermittelt oder gar verurteilt. Das wird dieses Mal wohl anders sein.

 ?? Foto: Sven Hoppe, dpa ?? Der 67-jährige Angeklagte steht vor Prozessbeg­inn im Landgerich­t mit seinem Anwalt Benjamin Ruhlmann im Sitzungssa­al und hält sich Plastiktüt­e und Ordner vors Gesicht. Er soll 30 Jahre lang Kinder missbrauch­t haben.
Foto: Sven Hoppe, dpa Der 67-jährige Angeklagte steht vor Prozessbeg­inn im Landgerich­t mit seinem Anwalt Benjamin Ruhlmann im Sitzungssa­al und hält sich Plastiktüt­e und Ordner vors Gesicht. Er soll 30 Jahre lang Kinder missbrauch­t haben.

Newspapers in German

Newspapers from Germany