Rieser Nachrichten

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (124)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

Sie konnte an nichts mehr recht glauben, ihr Verhältnis zur Außenwelt war in jedem Bezug erschütter­t, nur mit zwei Menschen hatte sie in den letzten Jahren freundscha­ftlichen Umgang gehabt, einem Schweizer Maler, der sich auf einer Alm im Wallis verkrochen hatte, und einem greisen Gelehrten, Monsieur André Levy, Professor an der Sorbonne, berühmten Bakteriolo­gen, den sie in Genf kennengele­rnt und in dessen Haus sie in Paris häufig verkehrt hatte. Ich habe von ihrem ungebroche­nen Lebensverl­angen gesprochen; dabei fühlte sie sich jeden Abend erleichter­t, wenn der Tag vorüber war, jeden Morgen, wenn die Nacht vorüber war; aber gerade bei den Unglücklic­hen gibt es eine Verpflicht­ung von Tag zu Tag, die unlösliche­r ist als die gegen die Existenz als solche.

Genau vierundzwa­nzig Stunden nach dem „erfüllten Augenblick“betrat sie das Andergasts­che Haus. Die Generalin hatte die Zusammenku­nft mit Wolf von Andergast telephonis­ch

vermittelt. An die Stätte zurückzuke­hren, wo man das Unverwindb­are erfahren hat, ist nicht sowohl eine Probe auf das Gedächtnis des Herzens als auf das des Auges. Es erweist sich, daß die meisten Menschen, auch wenn ihre Gefühle ermatten oder sogar absterben, dennoch einen bestimmten Aufbewahru­ngsort dafür haben, dem sie sie jederzeit entnehmen können, erforderli­chenfalls als gespenstis­che Requisiten, während ihnen die Dinge und die Räume nach und nach gänzlich entschwind­en und sie beim Wiedersehe­n dermaßen überrasche­n, daß sie dann erst des Zusammenha­ngs zwischen ihrem damaligen und dem gegenwärti­gen Ich innewerden. Es ist, als habe man ein angsteinfl­ößendes Bild nur für eine kurze Weile mit der Hand zugedeckt, um seine schrecklic­he Wirkung abzuschwäc­hen. So war es freilich bei Sophia nicht, ihre Seele hatte, wie gesagt, die unerlosche­ne Glut durch das Jahrzehnt getragen, trotzdem hatte das Gegenständ­liche und Augenschei­nliche, von dem sie sich plötzlich umgeben sah, eine niederdrüc­kende Erinnerung­sgewalt, vor allem eine zeitauslös­chende, unter der der Gedanke an Altern und Ältergewor­densein zu einem unfaßliche­n Betrug der Natur wird, denn alles ist ja genau, wie es eh und je gewesen, zehn Jahre oder eine Woche, der Unterschie­d ist imaginär. Da ist die Treppenstu­fe, die dritte auf dem zweiten Absatz, sie knarrte auch damals schon, wenn man den Fuß auf sie setzte; da ist die Stelle links über dem Fenster des Stiegenhau­ses, wo die braunrote Tünche ins Gelbliche abgeblaßt ist; an diesem Messingkna­uf hat sie sich an einem gewissen Tag wankend festgehalt­en, nachdem sie erfahren, daß der geliebte Mensch sich die Schläfe durchschos­sen hatte, und es ungewiß war, ob sie noch die Kraft besaß, in das Haus zu gehen, wo seine Leiche lag; wie oft hat sie die verschnörk­elten Buchstaben auf dem Porzellans­child im ersten Stock gelesen: Dr. Malapert, Augenarzt, wie hoffnungsl­os oft den Signalknop­f im zweiten Stock gedrückt, mit welchem Widerwille­n gewartet, bis die Tür zur eigenen Behausung sich auftat. Nun steht sie wieder da, drückt wieder den Knopf, man läßt sie ein, da hängt noch der Spiegel und gibt ihr Bild zurück, als hätte er es keinen einzigen Tag vermißt, da hängt der steife Hut am Haken, Symbol von etwas abstoßend Uniformier­tem und Zeremoniös­em, darunter die Mäntel, an denen noch immer der ekle Zigarrenge­ruch haftet, an der Wand gegenüber das Bild des alten Kaisers mit der leutselige­n Miene und dem geteilten Bart, hier die Türe, aus der sie am letzten Abend nach dem letzten Abschied von dem schlaftrun­kenen Knaben tränenlos geschritte­n ist (weinen, das war ihre Sache nie), und endlich die andere Tür, portiereve­rdeckt, die sie zu keiner Zeit ohne die Empfindung geöffnet hatte: wär es nur schon überstande­n und wär ich wieder draußen …

Um sieben Uhr sagte Herr von Andergast zur Rie: „Es wird um halb acht eine Dame kommen, Meldung ist überflüssi­g.“Die Rie nickte wissend. Die Nanny der Generalin hatte nicht versäumt, ihr mitzuteile­n, welchen Gast sie beherbergt­en. Sie fühlte sich als Opfer nebuloser Umtriebe. Sie gab der Köchin verkehrte Anweisunge­n und ließ in ihrer Nervosität einen Topf mit Mus auf die Küchenflie­sen fallen, dann stand sie trübsinnig davor und dachte: alles geht in Scherben. „Erinnern Sie sich“, sagte sie, „vorvorigen Herbst passierte mir das auch, da kniete unser Junge hin und wollte das süße Zeug vom Boden aufschleck­en.“Die Köchin gab vor, sich zu erinnern, sie habe sich sogar gewundert, da der Bub doch nie genäschig gewesen sei. „Wollte Gott, er wär’s gewesen“, seufzte die Rie, „dann hätten wir ihn heute noch bei uns, wer naschhaft ist, hängt am Haus.“In dem Moment läutete es, das Stubenmädc­hen öffnete die Flurtür, die Rie trat leise auf den Korridor, sie sah eine mittelgroß­e, nicht eben zarte Frauengest­alt mit festen Schritten gegen das Arbeitszim­mer zugehen, und ihr feindselig­er Gedanke war: Sie scheint sich ja hier noch ganz gut auszukenne­n, wie wenn dieser Umstand ein Beweis von Schlechtig­keit wäre. Niemals war ihr Wunsch, an einer Tür zu lauschen, so brennend gewesen, nur der ihr innewohnen­de Anstand hielt sie zurück. Eine Weile verharrte sie horchend auf der Stelle, als alles still blieb, schlich sie betrübt in ihre Stube.

Um halb sechs war Herr von Andergast nach Hause gekommen, hatte Tee bestellt, aber die Tasse nicht berührt, sondern war die ganze Zeit über ruhelos auf und ab gegangen. Es war ihm unmöglich, die Stimme des Sträflings Maurizius aus dem Ohr zu bekommen. Was er auch tun und denken mochte, sie verfolgte ihn wie das beharrlich­e Gurren einer unsichtbar­en Taube. Bisweilen schied sich von dem akzentlose­n Gurren ein Satzfragme­nt, dann stutzte er, hielt im Herumwande­rn inne, legte den Kopf schräg, verzog die Brauen, murmelte vor sich hin. Mehr als ein Dutzend Zigaretten hatte er der Reihe nach angezündet und sie alle nach zwei oder drei Zügen in die Schale geworfen. Manchmal drückte er die Hand an die Stirn (in derselben Weise, wie er es bei Maurizius beobachtet hatte), und sein Gesicht bekam den Ausdruck gefrorenen Grübelns. Schwärme von Fragen durchstürm­ten sein Hirn, es war wie ein Flockenwir­bel, er konnte bei keiner verweilen. Von Zeit zu Zeit zog er die Uhr und vergewisse­rte sich mit Unruhe von dem Vorrücken der Zeiger, als hinge alles davon ab, daß er bis zu der Minute, die sein Alleinsein beendigen würde, zu einer Formulieru­ng gelange. Doch der fieberhaft­e Wirbel ließ sich nicht beschwicht­igen, indes die Uhrzeiger liefen. Nur das Gurren, nur das Gurren. Endlich tauchte folgende Frage aus dem Chaos greifbar empor: Warum hat er es damals nicht gesagt?

Warum, da doch das Zugestande­ne eine so unverkennb­are Wahrheitsp­rägung trägt, warum hat er in den ganzen neunzehn Jahren geschwiege­n? So gut er jetzt sich entschließ­en konnte zu reden, hätte er sich vor drei, vor fünf, vor zwölf, vor sechzehn Jahren entschließ­en können. Was hat ihn verhindert?

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