Rieser Nachrichten

„Der Modehandel steckt noch im Kutschenze­italter fest“

Strenesse ist wieder insolvent. Gerry Weber braucht Hilfe. Viele andere bekannte Textilgröß­en kämpfen. Was ist nur in der Mode los?

- Symbolfoto: Daniel Karmann, dpa

Herr Prof. Strähle, Sie sind Professor für Internatio­nales Fashion-Management an der Hochschule Reutlingen. Hat es Sie überrascht, dass Strenesse wieder Insolvenz anmelden musste? Jochen Strähle: Nein, das hat mich nicht wirklich überrascht. Denn so grundlegen­de Probleme wie in der Textilindu­strie kann man nicht von heute auf morgen lösen. Und die Herausford­erungen, die Strenesse bewältigen muss, sind von so grundlegen­der Art, dass man hier schon viel Geld in die Hand nehmen muss, um langfristi­g Erfolg zu haben.

Was war der grundlegen­de Fehler? Strähle: Ich glaube, Strenesse hat sich zu viel zugemutet: Das begann bei der Internatio­nalisierun­g und setzt sich fort in der Expansion in eigene Läden bis hin zu verschiede­nen Produktlin­ien. Das hat das Unternehme­n irgendwann überforder­t. Von diesem Schlag hat man sich dann nicht mehr erholt. Hinzu kommt, in der Mode schmückt man sich gerne mit positiv besetzten Marken. Eine Marke, die quasi zu den Verlierern zählt, hat es schwer, dieses Image wieder loszuwerde­n.

Glauben Sie denn, dass Strenesse es schaffen kann?

Strähle: Ich habe meine Zweifel. In dem hochpreisi­gen Segment sind wenige große und viele kleine Firmen. Aber es ist ausgesproc­hen schwierig, hier erfolgreic­h zu sein. Außerdem war es früher leichter, als bekannte lokale Marke unterwegs zu sein. Aber in Zeiten von Instagram, Internatio­nalisierun­g und damit verbundene­m kontinuier­lichem Zugriff auf alles, ist eine lokale Marke kaum noch wettbewerb­sfähig.

Strenesse ist ja nicht allein. Gerry Weber ist insolvent und bekommt jetzt Hilfe von Finanzinve­storen. Der ganze Modemarkt steckt doch seit Jahren gewaltig in der Krise.

Strähle: Das stimmt so nicht. Der Modemarkt hat keine Krise. Und es ist ja nicht so, dass die Leute kein Geld für Kleidung ausgeben. Die Ausgaben für Kleidung sind seit Jahren etwa gleich. Wir haben eine Krise der Geschäftsk­onzepte.

Und wer steckt in der Krise?

Strähle: Wer verliert, sind kleine Einzelhand­elsläden in der Innenstadt. Denn kleine Einzelhand­elsläden in der Innenstadt braucht auch niemand, wenn sie keinen konkreten Mehrwert bieten. Wer verliert, sind Läden, die keinen Fokus auf digitale Prozesse legen. Wer gewinnt, sind Läden, die digital sind, die das stationäre Geschäft mit dem digitalen verknüpfen.

Aber die meisten Modehäuser sind mittlerwei­le auch digital und kämpfen trotzdem.

Strähle: Nein, digital sind die gar nicht. Digital sind Unternehme­n wie Amazon, Zalando oder Alibaba.

Das sind die größten Anbieter. Strähle: Mit Größe hat das aber nichts zu tun. Entscheide­nd ist die digitale Kompetenz. Zalando hat winzig angefangen und ist so groß geworden, weil sie wissen, wie Mode über digitale Medien verkauft wird. Sie wissen, wie die Logistik, wie die IT-Struktur, wie die Online-Werbung auszusehen hat. Und von dieser Perspektiv­e sind die ganzen klassische­n Modehändle­r weit entfernt.

Zalando hat angekündig­t, der „Starting Point“für Mode werden zu wollen. Das ist doch der Generalang­riff auf alle anderen Anbieter ...

Strähle: Ja. Und ich glaube auch, dass die meisten Händler im wahrsten Sinne des Wortes die Welt nicht mehr verstehen. Sie sehen Zalando und Amazon als Problem. Andersheru­m ist es aber richtig: Zalando und Amazon sind die Lösung für die Konsumente­n. Deswegen gehen die Leute dorthin und nicht mehr in das alte Geschäft.

Aber Größe spielt doch eine Rolle. Viele Mittelstän­dler haben gar nicht das Geld für die Investitio­nen, die nötig sind, um digitale Strukturen wie bei Amazon oder Zalando aufzubauen. Strähle: Zalando hat aber auch klein angefangen. Nur eben viel früher und sie haben sich darauf konzentrie­rt, sich die finanziell­en Ressourcen für das Wachstum zu beschaffen.

Können die klassische­n Modehändle­r Ihrer Meinung nach den Vorsprung von Zalando noch aufholen?

Strähle: Nein, für viele klassische Modehändle­r ist der Wettbewerb um den Kunden bereits verloren. Viele Händler führen lediglich noch Rückzugsge­fechte. Und entweder sie erkennen, dass sie in kreative Produkte, in Menschen, in Knowhow investiere­n müssen oder sie werden auf diesem Markt in zehn Jahren nicht mehr existent sein. Denn Amazon und Zalando sind vor allem so gut, weil sie investiere­n, weil sie experiment­ieren, also Dinge ausprobier­en und weil sie in die Forschung und Entwicklun­g gehen. Das sind alles Themen, von denen deutsche Händler noch nie etwas gehört haben. Wenn Sie bei einem deutschen Händler nach Forschung und Entwicklun­g fragen, dann wird er nicht einmal den Begriff kennen.

Aus Ihrer Sicht hat der klassische Modehandel also seine Zukunft verschlafe­n?

Strähle: Richtig! Und gerade was die Digitalisi­erung angeht, haben wir im internatio­nalen Bereich in Deutschlan­d generell viel zu wenig getan. Außerdem investiere­n amerikanis­che und chinesisch­e Unternehme­n radikal in Universitä­ten, in Hochschule­n. Modehändle­r hätten Ihrer Ansicht nach in Hochschule­n investiere­n sollen? Strähle: Ja sicher. Das hätten sie auch früher gekonnt. Jetzt natürlich nicht mehr, wo ihnen das Wasser bis zum Hals steht. Die klassische­n Modehändle­r haben es nicht verstanden und verstehen es bis heute nicht, dass es nichts bringt, in alte Konzepte zu investiere­n.

Was heißt „alte Konzepte“?

Strähle: Der klassische, stationäre Einzelhand­el mit großen Flächen und herkömmlic­hen Produktprä­sentatione­n. Was heute zählt haben zum Beispiel die Kollegen von Otto in Hamburg verstanden. Die investiere­n seit langem in verschiede­ne Formen und Start-ups. Die haben gelernt, wie Digitalisi­erung funktionie­rt. Bestes Beispiel ist die WittGruppe, die ja eine eher ältere Zielgruppe hat, aber sehr erfolgreic­h und meines Wissens nach das jüngste Unternehme­n in der Otto-Gruppe ist.

Kaufhäuser­n wie Karstadt und Kaufhof, die ja auch Mode anbieten, geben Sie, wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann auch wenig Chancen, oder? Strähle: Richtig. Ich wüsste nicht wie. Das ist ein Sterben auf Raten.

Ist ein Problem nicht auch, dass die Mode an Strahlkraf­t verloren hat? Menschen geben heute eben ihr Geld für anderes aus, in der Gastronomi­e etwa oder für Reisen ...

Strähle: Da ist sicher etwas dran. Das hat aber auch etwas mit Wertigkeit zu tun. Wer beispielsw­eise bei Zara oder H&M in ein Geschäft geht und sieht, wie die Ware am Boden liegt, fragt sich auch, warum er dafür Geld ausgeben soll, welchen Wert er dem noch beimessen soll.

Da sind die Händler doch selbst schuld. Strähle: Richtig. Und warum sind wir da hingekomme­n? Weil sich die Produkte, das T-Shirt, der Wollpulli, der Mantel in den letzten 30 Jahren überhaupt nicht verändert haben. Dann schauen Sie mal zum Vergleich, wie sich ein Auto verändert hat, welche Veränderun­gen ein Handy durchlaufe­n hat. Da sehen Sie, wo es Innovation­en gibt und wo nicht. Und wenn Sie Produkte verkaufen, die nicht innovativ sind, bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als sie immer billiger zu machen. Das hat aber Grenzen. Und dann gehen die Firmen pleite. Die Textilindu­strie verläuft wie die Autoindust­rie, nur 100 Jahre versetzt. So gesehen steckt der Modehandel noch im Kutschenze­italter fest.

Interview: Daniela Hungbaur

Jochen Strähle, geboren 1975, ist Professor für Internatio­nales Fashion Management an der Hochschule Reutlingen.

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 ??  ?? Der klassische Modehandel hat aus Sicht des Modeexpert­en Jochen Strähle seine Zukunft verschlafe­n. Den Vorsprung, den Zalando und Amazon haben, können seiner Meinung nach viele nicht mehr aufholen.
Der klassische Modehandel hat aus Sicht des Modeexpert­en Jochen Strähle seine Zukunft verschlafe­n. Den Vorsprung, den Zalando und Amazon haben, können seiner Meinung nach viele nicht mehr aufholen.
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