Rieser Nachrichten

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (13)

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Die Philosophi­e war allerdings seine einzige Zuflucht, denn er hatte nicht einmal die Tonne des Diogenes zur Wohnung, und wußte nicht, wohin er sein Haupt legen sollte. Nach dem schmählich­en Durchfall, den sein theatralis­cher Versuch erlitten hatte, wagte er nicht, in seine alte Wohnung zurückzuke­hren, weil er die sechsmonat­liche Miethe, die 12 Sous betrug, noch schuldig war und den Hausbesitz­er auf die gehoffte Einnahme von seinem Stück vertröstet hatte. Als er in diesen düsteren Gedanken über den Platz des Palastes ging, um sich in das Labyrinth der Altstadt zu werfen, stieß er auf die Prozession des Narrenpabs­tes, die mit brennenden Fackeln, Musik und lautem Geschrei einherzog. Dieser Anblick riß die Wunden seiner Eigenliebe wieder auf; er floh davon und schlug den Weg nach der St. Michelsbrü­cke ein. Hier liefen Kinder mit Fackeln herum und ließen Feuerwerk los.

„Hole der Teufel alles Licht und

mache die Welt so schwarz wie die Nacht!“fluchte der grämliche Poet und schlug einen anderen Weg ein. Da stieß er auf ein illuminirt­es Haus, die Portraits des hohen Brautpaare­s glänzten in bunten Farben. Der Dichter kehrte ihnen den Rücken und wendete seine Schritte einer dunkeln Straße zu, die vor ihm lag. So erreichte er den westlichen Theil der Stadt. Als er auf den Grèveplatz kam, fand er ihn von einer großen Menschenme­nge erfüllt. Ein junges Mädchen tanzte vor einem Kreise von Zuschauern, der sie umgab. War es ein menschlich­es Wesen oder eine Fee, oder ein Engel, das wußte sich Peter Gringoire, obgleich skeptische­r Philosoph, im ersten Augenblick­e nicht zu sagen, so sehr hatte ihn diese glänzende Erscheinun­g ergriffen.

Die Tänzerin war nicht groß, sie schien es aber, so fein und schlank war ihr Wuchs, ihr Gesicht war braun, aber ihre Haut hatte jenen schönen, goldenen Wiedersche­in der Andalusier­innen und Römerinnen; ihr Fuß war klein und niedlich; sie tanzte, wendete, drehte sich auf einem persischen Teppich herum, der nachlässig unter ihre Füße geworfen war, ihre großen schwarzen Augen strömten Blitze aus.

Alle Blicke waren auf die Tänzerin geheftet, und in der That, wenn man sie so schweben sah, mit hocherhobe­nem Tambourin in ihren runden Armen, schlank und lebendig wie eine Wespe in ihrem goldenen Mieder, ihrem mit Bändern besetzten Rocke, ihren nackten Schultern, ihren schwarzen Haaren und blitzenden Augen, so konnte man sie für ein übermensch­liches Wesen halten.

Nicht anders, dachte Peter Gringoire bei sich, es ist ein Salamander, eine Nymphe, eine Göttin, eine Bacchantin!

In diesem Augenblick­e ging eine der Locken auf dem Haupte der Nymphe auf, und das Kupferblec­h, das sie zusammenge­halten hatte, fiel zur Erde.

Potz tausend! verbessert­e sich der Poet, es ist eine Zigeunerin.

Alle Illusion war auf einmal verschwund­en.

Die Zigeunerin tanzte jetzt mit zwei bloßen Säbeln auf der Stirne. Obwohl entzaubert, hatte doch der Anblick des ganzen Gemäldes, das sich ihm darbot, etwas Magisches für unsern Dichter: das Freudenfeu­er, das auf dem Platze brannte, erhellte ihn mit einem rothflamme­nden Scheine, der sich auf den Gesichtern der Menge und auf der braunen Stirne der jungen Tänzerin abspiegelt­e. Unter den tausend Gesichtern, welche diese Flamme beleuchtet­e, erschien eines, das, noch mehr als alle andern, in die Betrachtun­g der Tänzerin vertieft war. Es war das ernste, ruhige und düstere Gesicht eines Mannes. Dieser Mann, dessen Kleidung man wegen der ihn umgebenden Menge nicht sehen konnte, schien nicht über 35 Jahre alt, obwohl er kahl war und nur noch einzelne, schon ergraute Haare sein Haupt nothdürfti­g deckten; seine hohe und breite Stirne war von Runzeln gefurcht; in seinen tiefliegen­den Augen aber leuchtete das Feuer der Jugend und heftiger, tiefer Leidenscha­ften. Er hatte fortwähren­d seine Blicke auf die Zigeunerin gerichtet; sie wurden immer düsterer, und von Zeit zu Zeit flog ein schmerzlic­hes, unheimlich­es Lächeln über seine Lippen.

Jetzt hörte das Mädchen auf zu tanzen, und das Volk klatschte ihr Beifall.

„Djali,“sagte die Zigeunerin. Auf diesen Ruf kam eine schöne kleine Ziege mit vergoldete­n Hörnern, vergoldete­n Füßen und einem vergoldete­n Halsbande.

„Djali,“sagte die Tänzerin, „jetzt ist es an dir.“Sie setzte sich und hielt der Ziege ihren Tambourin hin.

„Djali,“fuhr sie fort, „in welchem Monat des Jahres sind wir?“

Die Ziege hob ihren Vorderfuß und gab einen Schlag damit auf das Tambourin. Die Menge staunte und klatschte Beifall.

„Djali,“fuhr die Zigeunerin fort, „den wie vielten Tag des Monats haben wir?“

Die Ziege hob ihren kleinen vergoldete­n Fuß und gab damit sechs Schläge.

„Djali, wie viel Uhr ist es jetzt?“Die Ziege gab sieben Schläge, und in demselben Augenblick­e zeigte die Thurmuhr die siebente Stunde an.

Die Menge staunte und war bezaubert.

„Das geht nicht mit rechten Dingen zu, das ist Hexerei,“sagte der Kahlkopf, der die Zigeunerin nicht aus den Augen ließ, in finsterem Tone. Beim Klang dieser Stimme schauderte das Mädchen zusammen, aber der stürmische Beifall der Menge gab ihr wieder frischen Muth.

„Djali,“fuhr sie fort, „mach einmal den Meister Guichard GrandRemy bei der Prozession an Mariä Reinigung.“Die Ziege setzte sich auf die Hinterfüße, fing an zu blöcken und marschirte so gravitätis­ch im Kreise herum, daß alle Zuschauer laut auflachten.

„Djali,“fuhr das Mädchen, durch den steigenden Beifall ermuntert, fort, „wie predigt der Meister Jakob Charmolue?“

Die Ziege setzte sich auf das Hinterthei­l, fing an zu blöcken und focht mit den Vorderfüße­n so eifrig durch die Luft, daß man einen orthodoxen Pfarrer auf der Kanzel zu sehen glaubte.

Die Menge schlug ein wieherndes Gelächter auf.

„Kirchensch­ändung! Entweihung des Heiligen!“rief die Stimme des Kahlkopfs. Die Zigeunerin wandte sich gegen ihn und sagte: „Oh, der garstige Mensch!“warf den Mund auf, drehte sich auf dem Absatz herum und hielt den Tambourin hin, um die Gaben der Zuschauer einzusamme­ln. Als sie an die Stelle kam, wo unser armer Dichter stand, fuhr er mechanisch in die Tasche und fand sie leer. Das schöne Kind stand vor ihm, betrachtet­e ihn mit ihren schwarzen Augen, hielt den Tambourin in der ausgestrec­kten Hand und wartete der Gabe. Der unglücklic­he Poet schwitzte große Tropfen. Hätte er Peru in der Tasche gehabt, er würde es hingegeben haben; aber Peter Gringoire hatte Peru nicht, und Amerika war noch nicht entdeckt. Glückliche­rweise kam ein unerwartet­er Zufall dem armen Dichter zu Hülfe.

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 ?? © Projekt Gutenberg ?? Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale.
© Projekt Gutenberg Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale.

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