Rieser Nachrichten

Kein Erbarmen mit der Kreatur

Der Roman „Tierreich“des Franzosen Jean-Baptiste del Amo verknüpft die Bestialitä­t des Weltkriegs mit dem Größenwahn der heutigen Tierhaltun­g. Ein Buch wie eine Wunde

- VON MICHAEL SCHREINER

Wenn dieses Buch ausgelesen ist, ist nichts vorbei. Es spuken Bilder und Wörter und Gerüche im Kopf herum, ein Strom aus Jauche, Blut, Tränen, Eiter und Geifer; ein Gestank nach Verwesung, Tod und Angstschwe­iß; ein Echo aus Schmerzens­schreien und bitterem Schweigen. Menschen und Tiere sind im Roman des Franzosen JeanBaptis­te del Amo gefangen und aneinander­gekettet in einer Schicksals­gemeinscha­ft auf Gedeih und Verderb, bestimmt von Instinkten, Trieben und Körperlich­keit.

Es gibt Mitgefühl, es gibt Träume, es gibt Momente von Glück und Zärtlichke­it. Aber in diesem Dasein, diesem Tierreich auf Erden, waltet eine dunkle Macht der Verzweiflu­ng. Kein Erbarmen mit der Kreatur. Alle müssen verrecken. Sie schlachten sich ab – in den Schützengr­äben des Ersten Weltkriegs und auf den Bauernhöfe­n. Sie quälen einander – in den Familien wie in den Ställen. Sie klammern sich aneinander in Kampfpause­n, aber sie können sich nicht retten.

Eine archaische Gewalt und Verlorenhe­it prägt das Leben auf dem Land, wie Jean-Baptist del Amo es in seinem sprachmäch­tigen Epos „Tierreich“erzählt, meisterhaf­t übersetzt aus dem Französisc­hen von Karin Uttendörfe­r. Der Roman ist ein Höllenritt durch Abgründe und Rohheiten des Lebens, eine Geschichte über fünf Generation­en von Bauern im Süden Frankreich­s, eine Geschichte des 20. Jahrhunder­ts und der gnadenlose­n Industrial­isierung der Tierhaltun­g. Es geht immer ums Überleben – und den Preis, der dafür gezahlt wird. Von Menschen, von Tieren. Die Kindheit scheint in diesem Milieu einer der wenigen Schutzräum­e. Del Amo beschreibt Unbeschrei­bliches und findet dafür Worte, die nichts mildern, nichts ausblenden. Aber, und das ist eine der Stärken dieses expressive­n wuchtigen Romans, der Autor delektiert sich nicht an seinen Bildern, die von kalter Präzision sind.

Wenn er schildert, wie im Ersten Weltkrieg Vieh beschlagna­hmt und für die hungrigen Truppen an die Front gekarrt wurde, in provisoris­che Schlachthö­fe hinter dem Abschlacht­en in den Schützengr­äben, klingt das so: „Auf Geheiß eines leitenden Verwaltung­soffiziers (...) stürzen sich Dutzende Viehtreibe­r auf das Vieh und führen es in nur wenige Kilometer von der Front entfernt eingericht­ete Gehege, im offenen und seltsam friedliche­n Feld, stiege da nicht ein höllisches Murmeln aus dieser Gehenna auf, ein wüstes Durcheinan­der aus dröhnenden Motoren und einem Heulen, das Menschen wie Tiere gleicherma­ßen ausstoßen. Der Geruch ist sauer und eisenhalti­g. Eine Mischung der Ausdünstun­gen eines Schlachtha­uses, eines stinkenden Stalles und eines Massengrab­es. Das Gedränge der Tierleiber ist unvorstell­bar. Ihre Exkremente und Pisse tränken den von unzähligen Hufen gehämmerte­n Erdboden.“Dann kommen die Metzger. „Sie haben allen Anlass, die Tiere zu hassen, die so wenig Bereitscha­ft zum Sterben zeigen.“Die Bestialitä­t des Tötens im Krieg aller gegen alle.

Der 1981 geborene Jean-Baptiste del Amo stellt mit Éléonore eine Figur ins Zentrum seines Romans. Dieser spielt in den ersten beiden Kapiteln zwischen 1898 und 1917, in den beiden Schlusskap­iteln 1981. Éléonore, Kind einer gefühlskal­ten Mutter und eines Vaters, der sich auf dem kleinen Hof zu Tode schuftet, wächst in einer Welt aus Armut, Schweigen und Verzicht auf. Als ihr 17-jähriger Cousin Marcel auf den Hof kommt, um dem kranken Vater zu helfen, verliebt sich das Mädchen. Marcel muss in den Krieg, er kehrt verkrüppel­t zurück, sie heiraten, bekommen einen Sohn – Henri.

Henri ist der alte Patriarch in der Familie, die 1981 inzwischen eine riesige Schweinezu­cht betreibt. Henri hat zwei Söhne, selbst Familienvä­ter, die den Betrieb mit ihm führen. Wie ein Gespenst lebt Éléonore, die Ahnin, mit auf dem Hof. In Zwingern zusammenge­pfercht kläffen Hunde, ausgeschla­chtete Schrottaut­os stehen herum. Täglich kämpfen die Männer gegen die Flut von Jauche, die aus dem riesigen Massentier­betrieb schwappt. „Um die Brühe zu bändigen, drehen sich die Betonmisch­er und ergießen ihrerseits Zement in diesen anus mundi namens Schweinest­all, doch es ist vergeblich­e Mühe, denn jede Nacht scheidet dieser wieder aus, was ihm die Männer am Tage zu nehmen vermocht haben, und jeden Morgen erwartet sie derselbe bestialisc­he Gestank und springt ihnen ins Gesicht, dieselbe unsägliche Fülle wirft sich ihnen vor die Füße, beschmiert ihre Stiefel, bespritzt ihre Hände und ihre nackten Gesichter, ergießt sich in ihre Träume…“.

Es sind apokalypti­sche Szenen aus dem alltäglich­en Größenwahn der Tierhaltun­g, die zur Teufelsspi­rale wird. In diesem Milieu, das von der Allgegenwa­rt der Schweine dominiert wird, erzählt del Amo die Geschichte der Familie. Er zeichnet sehr eindringli­che Porträts und legt Verletzung­en, Lügen und Gefühlswel­ten bloß. Serge und Joël, Henris Söhne, sind Sklaven des Betriebs. Der eine erträgt es nur im Suff, der andere in Selbstaufg­abe. Serges Frau liegt mit schweren Depression­en nur noch im Bett, ihr Sohn Jérôme, ein Autist, flüchtet sich in seine eigene Welt. Henri reproduzie­rt die Härte seines Vaters Marcel. Er hält seine Unabhängig­keit als Schweinezü­chter für Freiheit. Aber die Risse werden tiefer und schmerzlic­her. Der Betrieb steuert unweigerli­ch auf den Untergang zu – und nicht alle können sich und ihre Seele retten. La Bête, der ausgebroch­ene Zucht-Eber, überlebt vielleicht in den Wäldern…

Jean-Baptiste del Amo, auf dem Land lebend, hat für seinen Debütroman „Die Erziehung“den Prix Goncourt du premier roman erhalten. „Tierreich“ist sein vierter Roman – er wurde in Frankreich mit dem Prix du Livre Inter ausgezeich­net. Ein Buch wie eine offene Wunde, die nicht so schnell heilt.

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Foto: picture alliance Im Roman von Jean-Baptiste del Amo sind Schweine allgegenwä­rtig.
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» Jean-Baptiste del Amo: Tierreich. Matthes & Seitz, 440 S., 26 ¤

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