Kein Erbarmen mit der Kreatur
Der Roman „Tierreich“des Franzosen Jean-Baptiste del Amo verknüpft die Bestialität des Weltkriegs mit dem Größenwahn der heutigen Tierhaltung. Ein Buch wie eine Wunde
Wenn dieses Buch ausgelesen ist, ist nichts vorbei. Es spuken Bilder und Wörter und Gerüche im Kopf herum, ein Strom aus Jauche, Blut, Tränen, Eiter und Geifer; ein Gestank nach Verwesung, Tod und Angstschweiß; ein Echo aus Schmerzensschreien und bitterem Schweigen. Menschen und Tiere sind im Roman des Franzosen JeanBaptiste del Amo gefangen und aneinandergekettet in einer Schicksalsgemeinschaft auf Gedeih und Verderb, bestimmt von Instinkten, Trieben und Körperlichkeit.
Es gibt Mitgefühl, es gibt Träume, es gibt Momente von Glück und Zärtlichkeit. Aber in diesem Dasein, diesem Tierreich auf Erden, waltet eine dunkle Macht der Verzweiflung. Kein Erbarmen mit der Kreatur. Alle müssen verrecken. Sie schlachten sich ab – in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs und auf den Bauernhöfen. Sie quälen einander – in den Familien wie in den Ställen. Sie klammern sich aneinander in Kampfpausen, aber sie können sich nicht retten.
Eine archaische Gewalt und Verlorenheit prägt das Leben auf dem Land, wie Jean-Baptist del Amo es in seinem sprachmächtigen Epos „Tierreich“erzählt, meisterhaft übersetzt aus dem Französischen von Karin Uttendörfer. Der Roman ist ein Höllenritt durch Abgründe und Rohheiten des Lebens, eine Geschichte über fünf Generationen von Bauern im Süden Frankreichs, eine Geschichte des 20. Jahrhunderts und der gnadenlosen Industrialisierung der Tierhaltung. Es geht immer ums Überleben – und den Preis, der dafür gezahlt wird. Von Menschen, von Tieren. Die Kindheit scheint in diesem Milieu einer der wenigen Schutzräume. Del Amo beschreibt Unbeschreibliches und findet dafür Worte, die nichts mildern, nichts ausblenden. Aber, und das ist eine der Stärken dieses expressiven wuchtigen Romans, der Autor delektiert sich nicht an seinen Bildern, die von kalter Präzision sind.
Wenn er schildert, wie im Ersten Weltkrieg Vieh beschlagnahmt und für die hungrigen Truppen an die Front gekarrt wurde, in provisorische Schlachthöfe hinter dem Abschlachten in den Schützengräben, klingt das so: „Auf Geheiß eines leitenden Verwaltungsoffiziers (...) stürzen sich Dutzende Viehtreiber auf das Vieh und führen es in nur wenige Kilometer von der Front entfernt eingerichtete Gehege, im offenen und seltsam friedlichen Feld, stiege da nicht ein höllisches Murmeln aus dieser Gehenna auf, ein wüstes Durcheinander aus dröhnenden Motoren und einem Heulen, das Menschen wie Tiere gleichermaßen ausstoßen. Der Geruch ist sauer und eisenhaltig. Eine Mischung der Ausdünstungen eines Schlachthauses, eines stinkenden Stalles und eines Massengrabes. Das Gedränge der Tierleiber ist unvorstellbar. Ihre Exkremente und Pisse tränken den von unzähligen Hufen gehämmerten Erdboden.“Dann kommen die Metzger. „Sie haben allen Anlass, die Tiere zu hassen, die so wenig Bereitschaft zum Sterben zeigen.“Die Bestialität des Tötens im Krieg aller gegen alle.
Der 1981 geborene Jean-Baptiste del Amo stellt mit Éléonore eine Figur ins Zentrum seines Romans. Dieser spielt in den ersten beiden Kapiteln zwischen 1898 und 1917, in den beiden Schlusskapiteln 1981. Éléonore, Kind einer gefühlskalten Mutter und eines Vaters, der sich auf dem kleinen Hof zu Tode schuftet, wächst in einer Welt aus Armut, Schweigen und Verzicht auf. Als ihr 17-jähriger Cousin Marcel auf den Hof kommt, um dem kranken Vater zu helfen, verliebt sich das Mädchen. Marcel muss in den Krieg, er kehrt verkrüppelt zurück, sie heiraten, bekommen einen Sohn – Henri.
Henri ist der alte Patriarch in der Familie, die 1981 inzwischen eine riesige Schweinezucht betreibt. Henri hat zwei Söhne, selbst Familienväter, die den Betrieb mit ihm führen. Wie ein Gespenst lebt Éléonore, die Ahnin, mit auf dem Hof. In Zwingern zusammengepfercht kläffen Hunde, ausgeschlachtete Schrottautos stehen herum. Täglich kämpfen die Männer gegen die Flut von Jauche, die aus dem riesigen Massentierbetrieb schwappt. „Um die Brühe zu bändigen, drehen sich die Betonmischer und ergießen ihrerseits Zement in diesen anus mundi namens Schweinestall, doch es ist vergebliche Mühe, denn jede Nacht scheidet dieser wieder aus, was ihm die Männer am Tage zu nehmen vermocht haben, und jeden Morgen erwartet sie derselbe bestialische Gestank und springt ihnen ins Gesicht, dieselbe unsägliche Fülle wirft sich ihnen vor die Füße, beschmiert ihre Stiefel, bespritzt ihre Hände und ihre nackten Gesichter, ergießt sich in ihre Träume…“.
Es sind apokalyptische Szenen aus dem alltäglichen Größenwahn der Tierhaltung, die zur Teufelsspirale wird. In diesem Milieu, das von der Allgegenwart der Schweine dominiert wird, erzählt del Amo die Geschichte der Familie. Er zeichnet sehr eindringliche Porträts und legt Verletzungen, Lügen und Gefühlswelten bloß. Serge und Joël, Henris Söhne, sind Sklaven des Betriebs. Der eine erträgt es nur im Suff, der andere in Selbstaufgabe. Serges Frau liegt mit schweren Depressionen nur noch im Bett, ihr Sohn Jérôme, ein Autist, flüchtet sich in seine eigene Welt. Henri reproduziert die Härte seines Vaters Marcel. Er hält seine Unabhängigkeit als Schweinezüchter für Freiheit. Aber die Risse werden tiefer und schmerzlicher. Der Betrieb steuert unweigerlich auf den Untergang zu – und nicht alle können sich und ihre Seele retten. La Bête, der ausgebrochene Zucht-Eber, überlebt vielleicht in den Wäldern…
Jean-Baptiste del Amo, auf dem Land lebend, hat für seinen Debütroman „Die Erziehung“den Prix Goncourt du premier roman erhalten. „Tierreich“ist sein vierter Roman – er wurde in Frankreich mit dem Prix du Livre Inter ausgezeichnet. Ein Buch wie eine offene Wunde, die nicht so schnell heilt.