Entzweit die Virus-Krise die Generationen?
Das Durchschnittsalter der Menschen, die bisher der Epidemie zum Opfer gefallen sind, liegt bei 80 Jahren. Wie Ältere eine Welle der Solidarität, aber auch Angst, Einsamkeit und schmerzhafte Konflikte in den Familien erleben
Augsburg Man liest und hört es jeden Tag: Der Schutz der Älteren und Schwachen vor einer Infektion mit dem Coronavirus hat oberste Priorität. Auch wenn immer mehr Fälle von jüngeren Menschen öffentlich werden, bei denen die Krankheit schwer oder gar tödlich verläuft – unter Virologen unumstritten ist, dass das Risiko für Menschen ab 70 Jahren oder mit krankheitsbedingter Vorbelastung stark ansteigt. Ein Blick auf das besonders hart von der Pandemie getroffene Italien spricht eine klare Sprache: Deutlich mehr als zwei Drittel der Todesopfer sind hochbetagt, oft weisen sie auch Vorerkrankungen auf. Das Durchschnittsalter der Menschen, die in Deutschland an Covid-19 gestorben sind, lag nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom Dienstag bei 80 Jahren.
Das sagt die Statistik. Eine ganz andere Frage ist, wie die vielen Millionen, denen jetzt von Verwandten und Bekannten eingebläut wird, zu Hause zu bleiben und direkte soziale Kontakte fast komplett herunterzufahren, die Ausnahmesituation erleben. Wie Eltern und Großeltern mit der Angst vor Ansteckung und einer langsam in ihr Leben kriechenden Einsamkeit umgehen? Die Prognosen reichen von ,das wird sich alles wieder einspielen’ bis zu ,das Verhältnis der Generationen zueinander wird nach der Krise nicht mehr wie zuvor sein’.
Die Psychologin Susanne Bücker warnt vor den langfristigen Auswirkungen auf unsere Gesellschaft, die die Beschränkungen im Kampf gegen die Ausbreitung des Virus haben könnten. Die Wissenschaftlerin von der Ruhr-Universität in Bochum forscht systematisch über das Thema Einsamkeit. Analysen und Folgen der Krise dürften in den nächsten Jahren Scharen von Medizinern, Wissenschaftlern und Politikern beschäftigen. Warum also nicht jetzt – inmitten der dramatischen Ereignisse – Erfahrungen und Daten sammeln?
Bücker ist wissenschaftliche Ansprechpartnerin für die groß angelegte psychologische Studie „Was die Coronakrise mit uns macht“unter Federführung der Ruhr-Universität. „Das Besondere der Studie ist, dass die Teilnehmer mehrfach, also täglich über vier Tage, befragt werden. Weit über 4000 Menschen haben bereits teilgenommen“, sagt Bücker im Gespräch mit unserer Redaktion. „Die Befragten reflektieren, was sie den Tag über erlebt und gefühlt haben. Da geht es um
Beziehungen, Angst vor Krankheit, Wohlbefinden, Trauer oder die Art der Kontakte.“Die Analyse läuft über mehrere Wochen. Interessenten können sich unter https://covid19-psych.formr.org/ melden. Die Auswertung beginnt natürlich erst nach dem Abschluss der Befragung, doch Bücker sieht sich schon jetzt in ihrer Annahme bestätigt, dass sich die Lage gerade für ältere Menschen dramatisch verschärft: „Einsamkeit ist insbesondere für diejenigen ein Problem, die schon vor Corona kaum soziale Kontakte hatten.“
Tatsächlich sind die Signale in diesen Tagen schwer zu deuten, ja mitunter widersprüchlich. Es gibt unzählige Beispiele von Hilfsbereitschaft – da organisieren Nachbarn Helferkreise, die Einkäufe für Alleinstehende übernehmen, da wird warmes Essen vor die Tür gestellt, über Balkone und Fenster hinweg getröstet. Anderseits spitzen sich in vielen Familien auch Konflikte zu. Viele Ältere fühlen sich im Stich gelassen, ja förmlich abgehängt. Wenn Oma oder Opa von jetzt auf sofort ihre Enkel nicht mehr sehen und schon gar nicht mehr knuddeln dürfen und auch noch auf Einkäufe oder Treffen im Freundeskreis verzichten sollen, ist das Entsetzen groß.
Nicht alle älteren Menschen sind bereit, die Einschränkungen klaglos hinzunehmen. Zwar belegt eine Forsa-Umfrage, dass sich die über 60-Jährigen mehr Sorgen machen, zu erkranken und zudem am ehesten bereit sind, ihr Verhalten zu verändern, um eine Ansteckung zu vermeiden. Doch viele über 75-Jährige, die noch rüstig sind, können nur schwer akzeptieren, dass sie die Wohnung kaum noch verlassen sollen. Was in einigen Familien daraus folgt, ist ein so zähes wie kraftzehrendes Ringen. Oft ist zwar grundsätzlich die Einsicht bei Mutter oder Großvater vorhanden, dass ihr Immunsystem weit anfälliger gegen Infektionen ist, als das des Sohnes oder der Tochter. Doch, wenn es um die Umsetzung geht, dann kippt die Stimmung nicht selten dramatisch.
Der renommierte Psychotherapeut Hartmut Radebold sieht in der Erziehung eine Erklärung für den vermeintlichen Starrsinn vieler Menschen jenseits der 80: „Wir haben als Kinder oder Jugendliche den Zweiten Weltkrieg miterlebt und wurden dazu erzogen, dem Körper keine Schwäche zuzugestehen. Dieses Erziehungsideal reicht bis in die Sechzigerjahre“, zitiert der Spiegel den heute 84-Jährigen. Die möglichen Folgen können schwerwiegend sein, auch wenn das bei RKI-Chef Lothar Wieler gewohnt nüchtern klingt: Vor allem seien es Ältere, die zur Risikogruppe gehören, die „eine verhältnismäßig geringe Krankheitsgefährdung wahrnehmen“würden. „Viele übernehmen immer noch die Betreuung der Enkel“, kritisierte Wieler bei Spiegel online.
Natürlich gibt es viele Beispiele von Senioren, die mit großer Souveränität auf die angespannte Lage reagieren. Und es waren ja gerade Teens und Twens, die sich vor der weitgehenden Ausgangssperre noch in Klubs und Parks trafen, um dicht an dicht ausgelassen zu feiern.
Dass es viele ältere Menschen kaum ertragen können, vorübergehend zu Hause zu bleiben, kommt nicht überraschend. Schließlich hat sich unser Bild von den Senioren in den letzten Jahren, ja Jahrzehnten extrem gewandelt. Reisefreudig, selbstständig mit vielen Kontakten und vor allem konsumfreudig. Ein Bild, das von der Werbebranche aus naheliegenden Gründen kräftig befeuert wird. Und nun soll das alles nicht mehr gelten, sollen wieder Kinder und Enkel für Vater und Mutter beziehungsweise Opa und Oma einkaufen, die Tüte vor der Haustüre abstellen und aus der Ferne winken? Das wird schwierig.
Zumal vieles darauf hindeutet, dass es tiefere Ursachen für Zwist zwischen den Generationen gibt. „Das Interessante ist ja, dass wir innerhalb kurzer Zeit bereits das zweite Thema zwischen Jung und Alt mit Konfliktpotenzial haben. Ich denke da an die Diskussionen über die Klimapolitik, in der die Jungen den Alten Verantwortungslosigkeit vorgeworfen haben. Das war meines Erachtens nicht berechtigt“, sagt die Politikwissenschaftlerin und Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, Ursula Münch, im Gespräch mit unserer Redaktion. Schließlich sei es doch viel eher die Generation „der Babyboomer und der Jüngeren“gewesen, die „munter drauflos gelebt“haben. „Aber garantiert nicht die Kriegsgeneration.“
Ursula Münch sieht jetzt in der Corona-Krise erneut das Potenzial für Missverständnisse zwischen den Generationen: „Das Schlimme ist ja, dass jetzt noch hinzukommt, dass man sich separieren muss, dass uns die Pandemie dazu zwingt, die Generationen voneinander zu trennen. Man kann sich also derzeit nicht einmal wirklich miteinander verständigen und persönlich austauschen.“
Was also ist zu tun, um den Kontakt innerhalb der Familien unter erschwerten Umständen zu pflegen? Psychologin Susanne Bücker setzt auf intelligente Kommunikation: „Bestenfalls können die Generationen auch voneinander lernen. Die Enkel zeigen den Großeltern, wie man über die neuen Medien in Kontakt bleiben kann. Die Älteren können erzählen, was sie für Krisen erlebt haben und wie sie damit umgegangen sind.“
Doch es gibt weitere Fallstricke. Bücker sieht eine oft fatale Wechselwirkung zwischen einem fehlenden sozialen Netzwerk und der Furcht vor Ansteckung und Isolation. „Menschen, die ängstlich sind, leiden oft stärker unter Einsamkeit. Und tatsächlich haben Ältere, um die sich keiner kümmert, Grund zur Sorge. Für sie besteht derzeit ein großes Risiko.“
Einen weiteren Faktor, der ältere Menschen gerade jetzt besonders hart trifft, nimmt der Politikwissenschaftler Christoph Butterwege in den Blick: Armut. Wer über wenig Geld verfüge, der habe „in der Regel wenige Sozialkontakte“, sagt Butterwege, der an der Universität Köln lehrt. „Gerade für sie wäre es deshalb wichtig, öffentliche Plätze, Einrichtungen und Veranstaltungen aufsuchen zu können, um nicht völlig zu vereinsamen.“Doch genau dies ist nur noch äußerst begrenzt möglich. Für Butterwege vertieft das Virus nicht nur die Spaltung zwischen Alt und Jung, sondern vor allem zwischen Arm und Reich: „Besserverdienende und Vermögende können leichter auf Lieferanten, Boten und Hauspersonal zurückgreifen, um sich vor einer Infektion zu schützen.“Auch die medizinische Versorgung oder eine Quarantäne zu organisieren, falle Gutbetuchten leichter.
In der Soziologie ist es ein bekanntes Phänomen, dass gerade in Krisenzeiten die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und Gruppen, aber eben auch die Generationen eine besonders feine Antenne für vermeintliche Benachteiligungen, Zurücksetzungen oder Verletzungen entwickeln.
Genau dies zeigte sich schon zu Beginn der Krise. Der Vorsitzende der Senioren-Union, Otto Wulff, monierte, dass sich in die Debatte über die medizinische Strategie zur Bewältigung der Corona-Krise ein unguter Zungenschlag eingeschlichen habe. So hätten manche Wortmeldungen nahegelegt, dass „Ältere weniger wert sind als Jüngere“. Wulff bekräftigte, dass es in der Frage, wer welche Behandlung im Krankenhaus bekomme, nur danach gehen könne, „wer die Hilfe am nötigsten hat“. Genau dieser Linie folgte in der letzten Woche der Ethikrat, dem neben Medizinern auch Philosophen und Theologen angehören. In einer Orientierungshilfe für Ärzte stellte der Rat klar, dass Alter oder Behinderungen nicht den Ausschlag geben sollen, falls in einem überlasteten Krankenhaus die dramatische Entscheidung anstehe, wer behandelt wird und wer nicht.
Dennoch wirkt dieses hochsensible Thema nach. Ein warnendes Beispiel dafür, was fehlende Empathie auslösen kann. Brücker sieht zwei negative Auswirkungen. „Ich glaube, dass das sehr verletzend sein kann. Der Hinweis auf das fortgeschrittene Alter von Corona-Opfern wurde ja auch zur Beschwichtigung der übrigen Bevölkerungsgruppen genutzt. Das hatte wiederum den Nachteil, dass am Anfang der Krise bei Jüngeren der Eindruck entstanden ist, sie könnten machen was sie wollen.“Immerhin habe das RKI gegengesteuert und darauf verwiesen, dass auch jüngere Infizierte schwer erkranken können.
Fingerspitzengefühl wird in den nächsten Wochen gefragt bleiben, was das Verhältnis zwischen den Generationen betrifft – vielleicht bald sogar noch stärker als heute. Darauf deutet die heraufziehende Diskussion darüber hin, wie ein Neustart am effektivsten organisiert werden kann, wenn sich die steile Kurve der Neuinfektionen abflacht. Eine immer wieder von Virologen und Politikern favorisierte Strategie läuft darauf hinaus, dass dann die Beschränkungen für Jüngere und Gesunde Schritt für Schritt fallen sollen. Alte und Infizierte hingegen müssten jedoch weiterhin direkte soziale Kontakte möglichst vermeiden. Das mag medizinisch und ökonomisch richtig sein, würde uns alle aber, was Zusammenhalt, Solidarität und Zuneigung zwischen den Generationen betrifft, vor eine noch größere Herausforderung stellen.
„Dass Schlimmste ist, dass uns die Pandemie zwingt, uns voneinander zu trennen.“Ursula Münch, Politikwissenschaftlerin