Mensch gegen Natur – Natur gegen Mensch?
Zuletzt erschien unser Umgang mit der Umwelt als die entscheidende Zukunftsherausforderung. Jetzt meldet sich mit der Coronakrise etwas allzu oft Verdrängtes in diesem Verhältnis zurück
Es war nur eine kleine Meldung inmitten der globalen Katastrophenmeldungen: Wegen des Coronavirus macht auch der Mount Everest dicht, keine Expeditionen aufs zuletzt so bestürmte Dach der Welt in diesem Jahr. Gerade in dieser Randnotiz aber scheint etwas Tieferliegendes über das Verhältnis der Menschen zur Natur auf.
Wenn dieses Verhältnis in den vergangenen Jahren nämlich als das Schicksalsthema der Zivilisation behandelt wurde, ging es um unsere Übermacht auf der Erde, die uns nun selbst in deren verheerenden Folgen für die Umwelt zum Verhängnis werden kann. Letztlich eine doppelte Frage der Kontrolle: Ist der Mensch vernünftig genug zur Selbstkontrolle für eine gelingende Zukunft? Und ist der Mensch in der Lage, die Zusammenhänge der Natur ausreichend zu verstehen, um kontrollierbare Verhältnisse anzusteuern?
In der Everest-Meldung aber zeigt sich ein weiteres Kontroll-Dilemma. Denn der höchste Berg der Welt stand dereinst für so etwas wie das Natur-Erhabene, eine Wildnis, deren Unzähmbarkeit das Menschliche überragte und begrenzte – und Zivilisation bedeutete auch Demut und Respekt, sie bestand geradezu in der Distanz zur Wildnis. Das ist längst Geschichte. Wenn ihre Zähmung wie beim Everest noch mit todesverachtendem Abenteurertum begann, also in betonter Abgrenzung von der Zivilisation – so ist die Wildnis inzwischen als deren Erweiterung eingemeindet geworden, als buchbare Selbsterfahrung, als professionell betreutes Ich-Event-Ziel mit dem Kitzel eines Restrisikos.
Aber die Wildnis schlägt zurück. Nicht im Riesigen, sondern im Mikroskopischen, wahrscheinlich von Fledermäusen in der chinesischen Provinz Wuhan in die Welt gesetzt, jedenfalls der vermeintlich alles Erhabene gezähmt habenden Menschheit auf den Leib gehetzt. Eine fast schon schicksalhaft scheinende Herausforderung an das kontrollierende Tier, das sich selbst Homo sapiens sapiens nennt.
Auch Papst Franziskus raunte in seiner endzeitlichen Corona-Sonderandacht: Nachdem der Mensch den Planeten krank gemachte habe – habe er gedacht, selbst gesund zu bleiben? Und zeigt sich nicht nach wenigen Tagen schon, wie gut es der kranken Natur tut, wenn die Menschen aus Sorge um die eigene Gesundheit stillhalten müssen?
Kein Wunder jedenfalls, dass sich in einer solchen Krise Weltbilder bestärkt sehen, die im Umweltdiskurs oft mitschwingen. Klassisch formuliert von Denkern wie James Lovelock und der Gaia-Theorie, die die Erde als einen einzigen, großen Organismus sehen, der sich in seinen Jahrmillionen und seinen verschiedenen Lebensformen immer wieder zum Gleichgewicht austariert und eine Übermacht darum reguliert, wenn sie sich für das Gesamte allzu ungesund entwickelt – siehe Menschheit, siehe sein Buch „Gaias Rache“. Sehr populäre Autoren wie John Gray zeigen sich in Werken wie „Raubtier Mensch“überzeugt, dass die Erde bis zum Jahr 2150 die Zahl des „Homo rapiens“wieder reduziert haben wird auf das Maß, bevor er zu Plage wurde: eine halbe bis eine Milliarde Exemplare.
Scheinen da der Klimawandel wie das Virus nicht gleichermaßen probate Mittel? Dazu passt, was im großartigen Buch der Autorin Sibylle Berg, in dem sie Recherche-Gespräche zu ihrem Roman „GRM“nachreicht, der New Yorker Biologe Carl Safina sagt: „Menschen sind mit dem Rest des Lebens auf der Erde nicht mehr vereinbar.“Gerade „zivilisiert“zu sein, helfe nicht. Für die Rettung eines menschenwürdigen Lebens müsse das Verhältnis zur Natur „humanisiert“werden. Weg mit der Kontrolldistanz zwischen Mensch und Natur, sagt der Forscher, während die Rückkehr der Wildnis in die Zivilisation durch das Virus gerade die Distanz zum Unwägbaren in unseren Alltag zurückgebracht hat: Denn die potenzielle Ansteckung, die Hölle, das sind die anderen, die Nächsten.
„Nerds retten die Welt“heißt Bergs Buch. Der Gaia-Denker James Lovelock, inzwischen 100 Jahre alt, hat den Glauben an die Menschheit inzwischen ganz aufgegeben. In dessen neustem Werk ist das Ende des vom Homo sapiens sapiens geprägten Erdzeitalters, genannt „Anthropozän“, bereits absehbar. Es kommt die neue Zeit, das „Novozän“; gerettet wird die Erde von unseren Nachfolgern in der Evolution, die wir noch selbst auf den Weg gebracht und damit unseren Zweck erfüllt haben: Cyborgs, aber nicht aus klassischer ScienceFiction als Mensch-MaschinenMischwesen, sondern also reine Hyperintelligenz. Lovelock in seinem fesselnden Essay: „Ich denke, es ist entscheidend zu begreifen, dass wir uns, welchen Schaden wir der Erde auch immer zugefügt haben mögen, gerade noch rechtzeitig gerettet haben, indem wir gleichzeitig als Eltern und Geburtshelfer der Cyborgs agieren.“Einer Hyperintelligenz jedenfalls könnte auch ein Coronavirus nichts anhaben…
Bevor es womöglich zur „nächsten Entwicklung“kommt, „10000 mal intelligenter als wir“: Was erzählt die Epidemie tatsächlich über uns und die Natur? Abseits der schicksalhaft herbeigeraunten Verschwisterung von Klimawandel und Virus gibt es einen Kategorienunterschied. Zwar hält beides der Menschheit einen Spiegel vor, dass ihn sein Fortschritt alles andere als erhaben und unverwundbar gegenüber der Natur gemacht hat: Vielmehr hat sie sich in der Umweltzerstörung ihre eigene Bedrohung erst geschaffen und vielmehr ist sie in ihrer globalen Entfaltung wohl anfälliger für Epidemien aus der Wildnis.
Aber gerade darin zeigt sich: Das eine ist eine Abhängigkeit, der wir nicht entkommen können, eine zwangsläufige Koexistenz, für deren Gelingen wir Verantwortung tragen – der Mensch bleibt ein Naturwesen, solange er kein Cyborg ist. Das andere ist eine unweigerliche Bedrohtheit des Lebens selbst, die den Menschen in seiner Geschichte schon immer heimgesucht hat, etwas wesentlich Unkontrollierbares, potenziell Katastrophisches, das zur Wildnis des Daseins gehört, die wir allzu leicht vergessen, weil im rundumversicherten Wohlstandseventleben verdrängt haben – das Gegenüber der Zivilisation bleibt die Wildnis, solange wir nicht in einer künstlichen Welt leben.
Und können wir das wollen, Cyborgs und künstliche Welt?
Der Züricher Philosoph Michael Hampe schreibt in seinem neuen Roman darüber, „Über das wirkliche Leben“, wie es im Titel heißt, in den Abteilungen: „Die Wildnis, die Seele, das Nichts.“In einem aktuell bizarr anmutenden Zufall ist es aus der Sicht eines Menschen erzählt, der sich wegen der Bedrohung draußen mit Vorräten verschanzt hat. Er denkt über die Verklärung der Natur und ihre Verscherbelung nach, über die Beschränktheit des Menschen und seine ins Unendliche reichenden Sehnsüchte. Die einzig ihm verbliebene Gesellschaft ist eine künstliche Intelligenz, die über die Menschen sagt: „Wenn ihr euch für frei haltet, werdet ihr übermütig und nehmt euch von all dem, was um euch geschieht, aus. Wenn ihr euch für unfrei haltet, werdet ihr depressiv und fatalistisch. Beide Überzeugungen haben sehr schlechte Konsequenzen.“
Der einen, vertrauten Seite der Natur gegenüber haben wir uns allzu lange allzu frei gefühlt, der anderen, nun plötzlich in unser Bewusstsein getretenen Seite gegenüber fühlen wir uns sehr schnell sehr unfrei. Dabei ist Freiheit, sagt der Cyborg Kagami, immer „relativ zu Erkenntnisfähigkeit, Alternativen und Macht“. Dem Virus gegenüber müssen wir unsere Freiheit erkämpfen – und wenn es nur eine innere sei, gewonnen aus der Rückbesinnung auf die natürliche „conditio humana“in einer Zeit der Propheten der Unsterblichkeit: dass wir mitten im Leben immer vom Tod sind. Und der Umwelt gegenüber unsere Unfreiheit einsehen. Es passt gut dazu: 2020 wird kein Mensch am höchsten Punkt der Erde stehen.
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- Michael Hampe: Die Wildnis, die Seele, das Nichts – Über das wirkliche Leben. Hanser, 304 S., 26 ¤
- James Lovelock: Novozän – Das kommende Zeitalter der Hyperintelligenz. Aus dem Englischen von Annabel Zettel, C.H. Beck, 160 S., 18 ¤
- John Gray: Raubtier Mensch – Die Illusion des Fortschritts. A. d. Englischen v. Hans Freundl. Klett-Cotta, 205 S., 20 ¤
- Sibylle Berg: Nerds retten die Welt. Kiepenheuer & Witsch, 336 S., 22 ¤