Wer bietet mehr?
Am heutigen Mittwoch berät Angela Merkel mit den Ministerpräsidenten über Lockerungen der Corona-Auflagen. Doch wozu eigentlich? Denn die Länder preschen seit Tagen mit Ankündigungen vor. Auch, weil die Stimmung in Deutschland gefährlich kippt
Berlin Zwischen Reichstagsgebäude und Kanzleramt spielen sich an diesem kühlen Dienstagmorgen gespenstische Szenen ab. Polizisten umringen einen weißen Geländewagen, unter dem Spritfresser lugt ein Fahrrad hervor. Was zunächst wie ein übler Unfall aussieht, ist in Wahrheit eine inszenierte Aktion verschiedener Bündnisse, die sichtbar wütend gegen den sogenannten Autogipfel und eine mögliche Autoprämie protestieren. Das Ganze spielt sich in Sichtweite des Büros von Kanzlerin Angela Merkel ab.
Ob die Regierungschefin das Geschehen verfolgt, ist nicht überliefert. Wenn ja, bekommt Merkel hier einen kleinen Vorgeschmack auf das, was ihr da noch bevorsteht: das nächste Bund-Länder-Treffen zur Corona-Krise. Nicht nur, weil der Widerstand gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung seit Tagen wächst – auf der Straße, in den sozialen Netzwerken, in der Wirtschaft. Die Konferenz ist zugleich eine Bewährungsprobe für Merkel und ihr Kabinett. Bekommt sie in Sachen Corona-Krisenmanagement nicht die Kurve, könnte die international mit so vielen Lorbeeren bedachte Bundesregierung unter die Räder kommen.
Denn die Stimmung in CoronaDeutschland kippt. Jeder merkt es im täglichen Umgang. Die Maskenpflicht im Supermarkt wird zwar erfüllt. Aber manchmal verhüllt nur ein grobmaschiger Schal notdürftig Mund und Nase, so richtig Mühe bei der Umsetzung der Hygienevorschriften geben sich nur die wenigsten. Es ist so eine Art stiller Protest gegen die Maßnahmen von „denen da oben“, die auf immer weniger Akzeptanz stoßen.
Auf besonders bizarre Art und Weise sichtbar wird dieser Protest in Berlin. Dort vereint die Wut auf strenge Corona-Regeln gar linke und rechte Kräfte. Das Virus bringt Konstellationen hervor, die vorher völlig undenkbar waren: Neonazis marschieren neben Linksautonomen bei den „Hygienedemos für Verfassung, Grundrechte & transparente Gestaltung der neuen Wirtschaftsregeln durch die Menschen selbst“, veranstaltet von einer Gruppe namens „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“. Zwar sind nur angemeldete Demos mit maximal 20 Teilnehmern erlaubt, aber das stört hier niemanden. Sicherheitsabstand ist angekündigt, wird aber nicht eingehalten. Auch die Kundgebungen am 1. Mai mit mehreren hundert Teilnehmern haben gezeigt, welche Qualität der Protest gegen das Corona-Reglement erreichen kann.
In der Masse werden bundesweit natürlich keine Polizisten beschimpft, auch die Steine bleiben im Straßenpflaster liegen. Aber der Protest, mit dem Merkel es jetzt schon zu tun hat, ist im Grunde genommen noch viel unberechenbarer. Denn die Corona-Gemengelage droht nach Wochen der Ordnung ins Chaos abzugleiten.
Die Konrad-Adenauer-Stiftung der CDU veröffentlicht seit einigen Wochen ein „Krisenbarometer“, das mittels repräsentativer Erhebungen die Stimmung im Land widerspiegelt. Demnach halten zwar immer noch drei Viertel der Deutschen die Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise für angemessen. Zu Beginn der Erhebung waren es noch 88 Prozent.
Vor diesem Hintergrund wird verständlicher, warum Bund und Land gerade so uneinheitlich agieren, was die Corona-Maßnahmen betrifft. Warum sich die Länder in diesen Tagen mit neuen Ankündigungen überbieten.
Machtbewusste Politiker wie der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) oder sein nordrhein-westfälischer Amtskollege Armin Laschet (CDU) haben erkannt, dass die meisten Bundesbürger in den staatlichen Milliardenspritzen etwa zur Stützung der Kurzarbeit einen Gewinn fürs Land insgesamt sehen. Insgeheim schwant vielen Deutschen aber auch, dass der Weg aus der Kurzarbeit nicht zwingend wieder in die normale Beschäftigung führt. Unionsfraktionsvize Carsten Linnemann warnte kürzlich vor „Wohlstandsverlus
und davor, „dass ein Teil derjenigen, die heute Kurzarbeit machen müssen, später arbeitslos sein werden“. Linnemann ist Chef der Mittelstands- und Wirtschaftsunion, dem mit rund 25000 Mitgliedern größten parteipolitischen Wirtschaftsverband in Deutschland, und weiß, wovon er spricht.
Im Kanzleramt, im Gesundheitsministerium von Jens Spahn oder im Wirtschaftsministerium von Peter Altmaier werden die Umfragen auch
verfolgt. In den Ländern entsteht aber der Eindruck, dass die Bedürfnisse der Menschen vor Ort von der Berliner Blase abprallen und nicht zu den Entscheidern am Kabinettstisch durchdringen. „Die Politiker müssen abwägen in Rückkopplung zur regional sehr unterschiedlichen Gesamtsituation, und das haben wir in der Vergangenheit getan, auch wenn das in den Medien nicht immer so zum Tragen gekommen ist“, sagt Sachsen-Anten“ halts Ministerpräsident Reiner Haseloff im Cicero-Interview, kurz bevor der CDU-Politiker und sein Kabinett die „Fünfte Verordnung über Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus“verabschieden.
Sachsen-Anhalt prescht mit dieser Verordnung am Wochenende weiter vor, als es andere lockerungswillige Länder vorher gewagt haben. Die Folge lässt nicht lange auf sich warten. Am Montag legt Nieaufmerksam dersachsen einen Stufenplan vor, Mecklenburg-Vorpommern zieht nach. Das nordöstliche Bundesland öffnet seine Gaststätten und beendet noch vor Pfingsten das mehrwöchige Einreiseverbot für auswärtige Touristen. Am Dienstag beschließt sogar der bisher eher zurückhaltende Hamburger Senat weitere Lockerungen.
In Baden-Württemberg mahnt Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) zwar ein bundesweit abgestimmtes Vorgehen an. „Zusammenbleiben kann man nicht, wenn jeder schon vorher beschlossen hat, was er macht“, kritisiert er – nur um anschließend weitere Lockerungen zu verkünden. „Kontaktloser Sport“im Freien, Golf, Leichtathletik oder Tennis etwa, soll in Baden-Württemberg bald wieder erlaubt sein.
Ähnliche Lockerungsübungen vollzieht Markus Söder. Einerseits kritisiert er Haseloff und andere Ministerpräsidenten für ihr Vorpreschen. Andererseits verkündet er nahezu im gleichen Atemzug einen umfangreichen Exit-Fahrplan für den Freistaat. Zu einem „Modell“stilisiert Söder seine Maßnahmen hoch, während andere nur Stückwerk präsentieren würden, packe Bayern das große Ganze an. „Es geht von hinten her“, sagt Söder. Was immer der CSU-Politiker damit auch meint – klar scheint nun, dass der Streit zwischen den Ministerpräsidenten um den besten Weg aus der Krise zumindest vorerst aufgehoben ist. Denn mittlerweile hat sich nun wirklich jeder und jede zu Wort gemeldet.
Nur bleibt die Frage, was das große Corona-Konzert von Bund und Ländern am heutigen Mittwoch überhaupt noch bringen soll. Die Antwort: jede Menge, denn der Berg an Problemen ist trotz der sinkenden Zahl von Neuinfektionen nicht kleiner geworden. Kitas und Schulen warten auf ein Konzept für
Die Wut auf strenge Regeln vereint Linke und Rechte
Der Kanzlerin gehen langsam die Argumente aus
weitere Öffnungen, der Fußball hofft auf eine Entscheidung über die Wiederaufnahme des Spielbetriebs. Zudem wird es in den Bund-Länder-Beratungen stärker ums Geld gehen. Bislang wurden die Milliarden quasi mit dem Füllhorn über Land verschüttet. Doch die ersten Hilfsprogramme laufen bald aus und die Frage ist, wie es weitergeht. Einigen in der Bundespolitik schwant, dass sich die Gemengelage verschiebt. „Wir müssen aufpassen, dass die Länder mit ihren Lockerungen nicht auf einmal die Guten sind und der Bund der Böse, weil er keine neuen Hilfsprogramme mehr auflegen kann oder will“, sagt ein ranghohes CDU-Präsidiumsmitglied.
Für Kanzlerin Merkel wird es damit eng. Hatte sie zum Ausbruch der Pandemie noch das Zepter in der Hand, so gehen ihr langsam die Argumente aus. Die von ihr beklagten „Öffnungsdiskussionsorgien“hat sie längst an der Backe, die Länder haben deutlich gezeigt, wie wenig sie vom Merkel’schen Krisenmanagement halten. Auch die Excel-Tabellen mit den vielen Zahlen zum Stand der Corona-Pandemie helfen der Regierungschefin nicht mehr. Die Infektionszahlen sind deutlich zurückgegangen, von der vielfach befürchteten Überlastung des Gesundheitssystems kann zum Glück nicht die Rede sein. Es ist gerade ein bisschen so wie in der Flüchtlingskrise. Damals wurde Merkel zunächst für ihre Maßnahmen gefeiert. Als etwas mehr Normalität in den Alltag Einzug hielt, kehrte sich das schnell ins Gegenteil um.
Mit einem Machtwort kann die Kanzlerin die Situation jedenfalls nicht befrieden. Damals wie heute bleibt Angela Merkel wohl nur, den Ministerpräsidenten zu folgen – und letztlich auch deren Überbietungswettbewerb in Sachen Corona-Lockerungen.