„Das Urteil trifft die Falschen“
In Brüssel sieht man nach der Entscheidung aus Karlsruhe die Unabhängigkeit der EZB nicht in Gefahr. Der Blick richtet sich auf die Versäumnisse der Wirtschaftspolitik im Euroraum
Brüssel Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Brüssel ein solches Urteil wohl erschüttert. Doch jetzt wirkt der Richterspruch wie ein Ordnungsruf aus grauer Vor-Corona-Zeit. Dabei betrifft die Entscheidung aus Karlsruhe Europa sehr wohl. Das höchste deutsche Gericht verdonnerte zwar nicht das Staatsanleihenprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) als eine verbotene Form von Wirtschaftshilfe. Aber es gab offene Kritik an der Praxis der Banker im Jahr 2015. Damals hatte die EZB auf dem Höhepunkt der Staatsschuldenkrise ein Projekt namens PFPP gestartet und bis 2018 für 2,6 Billionen Euro Papiere der Eurostaaten erworben. Das Ziel: Um den maroden Regierungen in Griechenland, Spanien, Portugal, Irland und Malta sowie Italien zu helfen, erwarb man in Frankfurt deren Anleihen. Dadurch wurde es den Staaten leichter gemacht, sich mit frischem Kapital zu erträglichen Zinsen zu versorgen. Der eigentliche Antrieb der EZB aber bestand in der Rettung des Euro, also ein geldpolitisches Ziel im Rahmen ihres Mandates. Zumindest konnte man es so sehen. Und so bestätigte der Europäische Gerichtshof (EuGH) Ende 2018, dass die EZB ihr Mandat nicht überschritten habe und alles in Ordnung sei.
Die Schärfe, mit der Karlsruhe nun die Entscheidung des EuGH als „willkürlich“bezeichnete, hat in Brüssel allerdings überrascht. Eine derart unverhohlene Kritik in der ohnehin selten reibungsfreien Zusammenarbeit zwischen den höchsten Gerichten in Karlsruhe und Luxemburg sei „so etwas wie ein Tabubruch“, hieß es unter Diplomaten. Den aber wollte niemand wirklich an die große Glocke hängen, weil das Staatsanleihenprogramm selbst von den deutschen Verfassungsrichtern nicht kritisiert worden war. Die von Karlsruhe geforderte Abwägung, ob der Aufwand verhältnismäßig war, wurde fast vernachlässigt. „Das stellt nicht die Unabhängigkeit der EZB infrage“, erklärte der finanzpolitische Experte der christdemokratischen EVPFraktion im EU-Parlament, Markus Ferber (CSU). „Es handelt sich um eine formale Hürde, die nun schnell genommen werden muss.“
Eine viel größere Rolle spielte in den Reaktionen die Tatsache, dass die Euro-Banker eigentlich für ein Versäumnis der Mitgliedstaaten geprügelt worden waren. „Die Verhandlung zeigt einmal mehr das bestehende Spannungsfeld zwischen der fehlenden europäischen Wirtschaftsund Finanzpolitik auf der einen und den Grenzen der Geldpolitik auf der anderen Seite“, erklärte der SPD-Wirtschaftspolitiker und Europaabgeordnete Joachim Schuster. „Die Versäumnisse der Euroländer haben die Europäische Zentralbank
in eine schwierige Lage gebracht“, analysierte die Vorsitzende der Europafraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Ska Keller. Fraktionsübergreifend wurden die Defizite in der Wirtschaftspolitik der Eurozone kritisiert, die das umstrittene Eingreifen der EZB überhaupt erst nötig gemacht hatten. Wäre die Eurogruppe einig gegen Haushaltssünder vorgegangen und hätte es nicht bei wirkungslosen blauen Briefen belassen, hätte Frankfurt keine Staatsanleihen aufkaufen müssen. Nun müsse die Bundesregierung ihre Blockade gegen eine Reform der Währungsunion aufgeben.
Wirklich heftige Reaktionen gab es auf das Urteil nicht. Wer wollte mitten in dieser Coronavirus-Krise noch etwas von Schuldengrenzen und Haushaltsregeln oder überzogenen Hilfestellungen der EZB wissen, wo die Wirtschaft vieler Staaten am Boden liegt? Die EU hat inzwischen andere Sorgen.