Ein Festtag für die Lyrik
Die Schwedische Akademie vergibt höchste literarische Weihen an die US-Dichterin Louise Glück. Ihre zwei auf Deutsch erschienenen Bände aber sind vergriffen
New York/München Als die in Rumänien geborene deutsche Schriftstellerin Herta Müller im Jahr 2009 den Literatur-Nobelpreis erhielt, da wurde, wir erinnern uns deutlich, in den USA die Frage gestellt: „Herta who?“
Elf Jahre später dürften in Deutschland nicht wenige selbst unter Lyrikkennern die Retourkutsche fahren: „Louise wer?“
Als ignorant und arrogant sollten beide Reaktionen betrachtet werden.
Gestern jedenfalls wurde der USLyrikerin der Literatur-Nobelpreis 2020 von der Schwedischen Akademie Stockholm zuerkannt. Die 77-Jährige werde „für ihre unverkennbare poetische Stimme“ausgezeichnet, mit der sie voll „strenger Schönheit die individuelle Existenz universell“mache, erklärte der Ständige Sekretär der Akademie, Mats Malm.
Die frisch gekürte Nobelpreisträgerin hat für ihre Schriften in ihrer amerikanischen Heimat bereits höchste Auszeichnungen erhalten, 1993 etwa den prestigeträchtigen Pulitzer-Preis, 2014 den National Book Award, 2015 die National Humanities Medal – zusammen mit den höchsten literarischen Ehren jetzt aus Schweden gewiss ein starker Hinweis darauf, dass diejenigen etwas nachzuholen haben, die Louise noch nicht Stunden der Lektüre gewidmet haben.
Glück wurde 1943 in New York als Tochter eines Unternehmers und einer Hausfrau geboren und wuchs auf Long Island auf. Ihre Großeltern väterlicherseits waren aus Ungarn eingewanderte Juden. Schon als junges Mädchen schrieb sie Gedichte. „Meine Interaktionen mit der Welt als soziales Geschöpf waren unnatürlich, gezwungen, und ich war am glücklichsten, wenn ich gelesen habe“, erinnerte sich Glück einmal in einem ihrer seltenen Interviews. Nach ihrem Debüt „Firstborn“(1968) veröffentlichte die heutige Literaturprofessorin elf weitere Gedichtbände sowie mehrere Bücher mit Essays über Poesie. Aktuell lehrt sie an der Elite-Universität Yale in New Haven (Connecticut) Englisch.
Louise Glücks Spezialität sei „genau die Sache, die nur lyrische Dichtung schaffen kann und die zu den intimsten, nicht-öffentlichsten Dingen gehört, die Wörter schaffen können: die ganz spezielle Musik der Gedanken zu imitieren“, beschrieb einmal die New York Times das Werk Glücks. „Ihre Gedichte schicken einen in die Welt hinaus, ein bisschen kälter, aber komplett wach, mit ihrer Stimme nachklingend im Kopf.“
In den Schriften Louise Glücks, die als Kind unter Essstörungen litt und noch heute die Psychotherapie als einen wichtigen Teil ihres Lebens bezeichnet, geht es fast immer um Gefühle und Gedanken – um Einsamkeit, Familienbeziehungen, Liebe, Verzweiflung, Scheidungen und Tod, dabei oft durchwirkt von klassischen antiken Mythen und Sagen. „Das ist die normale menschliche Erfahrung“, sagt Glück dazu. „Man benutzt also sich selbst als Labor, um darin die für einen selbst zentralen menschlichen Dilemmata zu üben und zu meistern.“
Ihr erster Gedichtband „Firstborn“sei ihr heute eher peinlich, meint Louise Glück. „Ich schaue ihn mir jetzt an und er scheint mir dünn und uninformiert und gefüllt von dem Wunsch zu schreiben. Das nächste Buch zu schreiben – ,The House on Marshland‘ – hat etwa sechs Jahre gedauert, und ich denke, von diesem Punkt an war ich gewillt, meinen Namen draufzusetzen.“Rund ein Dutzend Gedichtesammlungen folgten, von denen „Wilde Iris“, das 1992 im Original und 2008 dann auf Deutsch erschienen ist, mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Kritiker betrachten das Werk bis heute als ihren besten Lyrikband.
„Wilde Iris“erschien ebenso wie „Averno“in Deutschland im Luchterhand Verlag, wo die Rechte späGlück ter aber ausliefen. Beide Bücher sind vergriffen. Verlagssprecher Karsten Rösel erklärte gestern gegenüber unserer Redaktion, unmittelbar nach der Bekanntgabe des Literatur-Nobelpreises um 13 Uhr habe Luchterhand per Telefonanruf in die USA um Neuverhandlungen bezüglich der Rechte gebeten. Die Druckplatten seien noch im Haus, man wolle in der Druckerei Zeitfenster vor Weihnachten suchen und nutzen.
Einer, der Louise Glück gelesen hat, ist der deutsche Literaturkritiker Denis Scheck. Er begrüßte ihre Auszeichnung mit den Worten: „Es ist eine Überraschung, aber keine schlechte.“Glück sei eine äußerst qualitätsvolle und in den USA sehr berühmte Lyrikerin, die dort alles an Preisen erhalten habe, was man gewinnen könne. „Das ist ein Festtag für Leserinnen und Leser und unterstreicht die Bedeutung der Lyrik auch im 21. Jahrhundert.“
Überraschend sei die Entscheidung auch deshalb, weil vor vier Jahren erst der US-Musiker Bob Dylan für seine Lyrik ausgezeichnet worden war. Denis Scheck weiter: In der Stockholmer Akademie sei man auf Nummer sicher gegangen. „Die Akademie hat sich einen sehr sicheren Hafen gesucht nach der Kontroverse um Peter Handke im letzten Jahr.“