Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (87)
In die italienische Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefert. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaf fen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu reli giösen Fanatikern und einem muslimischen Wunderheiler führt.
© Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals. Carl Hanser Verlag 2019
Außerdem teilte er ihnen mit, dass das Urteil erst morgen früh gefällt werden würde, da der große Führer und zugleich Richter derzeit bei einer Militäroperation sei.
Die Suppe schmeckte erstaunlich gut. Linsen und Zwiebeln, mit Kumin, Pfeffer, Oregano und Olivenöl gewürzt. Das Brot war frisch und knusprig, das Innere war locker und luftig, wie Barudi es mochte.
„Das Essen schmeckt besser als in so manchem Restaurant“, sagte Mancini.
„Aber Roberto“, sagte Barudi absichtlich laut und heuchlerisch, „der Islam pflegt mehr als das Christentum die Gastfreundschaft.“Dabei verdrehte er die Augen, so dass Mancini lachen musste.
Die Matratze stank fürchterlich, aber Barudi war todmüde. Er ignorierte den Geruch, und bald hörte er Mancini schnarchen. Er empfand Mitleid mit dem armen Italiener, der nun in diese lebensgefährliche Falle geraten war. Warum hatte ihm Major Suleiman das alles verschwiegen?
Plötzlich aber kam ihm eine grundsätzliche Frage: Hatte sein Chef überhaupt eine Ahnung von der Entwicklung der letzten Monate in diesem Gebiet? Verschwieg der Geheimdienst vielleicht auch vor ihm die Rebellion der Islamisten, die er nicht mehr unter Kontrolle hatte? Hier war ein Staat im Staat entstanden, wie die Hisbollah im Libanon.
Als ihm schließlich die Augen zufielen, war Barudi überzeugt, dass nur wenige Personen in Damaskus eine Ahnung von der sich hier anbahnenden Katastrophe hatten, und er versöhnte sich im Stillen wieder mit seinem Chef.
32. Glück im Unglück
Gegen sieben Uhr klopfte es, und ein Wärter öffnete die Tür.
„Guten Morgen. Ihr müsst aufstehen und euch frischmachen. In einer halben Stunde bringe ich euch zu unserem Emir und Richter.“Er ging und ließ die Tür offen.
Barudi richtete sich auf. Für einen Augenblick wusste er nicht, wo er war. Er ging barfuß bis zur Tür, ein kleiner Korridor verband die Zelle mit einem Bad und einer Toilette. Er drehte sich um, Mancini richtete sich gerade auf.
„Wir müssen zum Richter“, sagte Barudi leise.
Als der Wärter wieder kam, waren sie angezogen und gekämmt.
„Gehen wir“, sagte der Mann. Mancini und Barudi gingen ohne Handfesseln hinter ihm her. Barudi war verwundert, dass man sie als verdächtigte Spione einfach so einem unbewaffneten Wärter überließ.
„Ich glaube, es sieht gut aus“, flüsterte Mancini.
Vor der Tür eines Gebäudes auf der anderen Straßenseite standen zwei schwarz gekleidete Wächter mit Kalaschnikows. An der Fassade wehte eine schwarze Fahne. Die Wächter waren informiert, nickten dezent und machten den Eingang frei.
Barudi und Mancini wurden in ein großes Büro im ersten Stock gebracht. Außer dem Schreibtisch standen drei Pritschen an der Wand. Der Raum sah aus wie eine Feldzentrale. In der Mitte stand ein athletischer bärtiger Mann an einem Tisch und lächelte. Der Tisch war für drei Personen gedeckt. Es gab ein bescheidenes Frühstück mit Schafskäse,
Oliven, Kräuterquark und Brot. Der Mann hatte ein feines Gesicht und Hände wie ein Klavierspieler. Er sah trotz des Bartes eher wie ein braver Jesuitenpater aus und nicht wie ein Anführer terroristischer Islamisten, der Tag für Tag Todesurteile spricht.
Er grüßte sie höflich und bat sie, Platz zu nehmen. Barudi und Mancini erstarrten fast vor Überraschung. Mancini dachte einen Moment lang, ob dies hier seine Henkersmahlzeit werden würde, und Barudi wunderte sich, dass auf dem Tisch sein Lieblingsfrühstück stand. Im Sommer wären noch frische kleine Gurken und reife Tomaten dazugekommen.
Ein weiterer bärtiger Mann in schwarzen Kleidern brachte eine große Kanne Tee, füllte die Gläser und stellte die Kanne dann in die Tischmitte. Er trat zwei Schritte zurück, salutierte theatralisch streng. „Mein Emir, wünscht Ihr noch etwas?“, fragte er mit gekünstelter Stimme und in veralteter Sprache. Der Gastgeber antwortete hoheitsvoll: „Nein, mein Getreuer, Gott segne dich und deine Hände.“
Der Mann drehte sich um und ging.
Der Gastgeber sprach eine religiöse Formel und wünschte seinen Gästen guten Appetit. Langsam aß Barudi und noch langsamer Mancini.
„Hast du mich nicht erkannt, Zakaria?“, fragte der Bärtige dann und lächelte Barudi an. Barudi hätte sich fast an seinem Bissen verschluckt. Er starrte auf den Mann, der ihn noch immer anlächelte. Mancini wirkte wie eine Gipsfigur.
„Nein, leider nicht“, sagte Barudi, nachdem er das Stück Brot hinuntergewürgt und einen kräftigen Schluck Tee hinterhergeschickt hatte.
„Ich bin Scharif. Erinnerst du dich nicht mehr an mich? Basma wird sich bestimmt an mich erinnern. Sie sagte, Gott hat mich zu ihr geschickt.“
Barudi blieb vor Schreck fast das Herz stehen. „Scharif, nein! Scharif, du bist Scharif?“
„Ja, als ich gestern spät in der Nacht zurückkehrte – wir haben drei Angriffe im Osten abgewehrt und die Regierungstruppen zurückgeworfen –, erzählte man mir, dass die Soldaten zwei Spione gefasst hätten. Und da der eine Italiener war, brauchten sie meine Zustimmung. In letzter Zeit ist mit den Ausländern allerlei schiefgelaufen. Unter meiner Führung darf hier in den Bergen keinem Unschuldigen etwas passieren. Wir müssen auf unseren Ruf achten. Und wir wollen alles überprüfen, bevor wir ein Urteil fällen.
Ich erkundigte mich, wer der andere sei, und er nannte mir deinen Namen, Zakaria Barudi. Man zeigte mir deine Papiere und deinen Dienstausweis, und da war ich mir ganz sicher, dass du es bist. Ich versicherte den Männern, dass ihr keine Spione seid, dass man euch ausschlafen lassen soll und dass ihr unter meinem besonderen Schutz steht.
Sie mussten mir versprechen, dass keiner euch quält.“Scharif hielt kurz inne. „Und wie geht es meiner Mutter Basma?“, fragte er dann. Mancinis Mund stand offen. Wie? Seine Mutter? Erst allmählich erinnerte sich der Italiener an die fehlgeschlagene Adoption eines kleinen Jungen namens Scharif, von der ihm Barudi erzählt hatte.
In diesem Moment begann Barudi zu weinen. Mancini erhob sich und legte seinem Freund beide Hände auf die Schultern. „Sie hat das Leben ohne dich nicht verkraftet. Ich habe alles versucht, aber ihr Herz war gebrochen“, sagte Barudi und weinte wie ein Kind.
„Nein“, rief Scharif, „nein, das hat sie nicht verdient“, sagte er und stand ebenfalls auf. Er ging zu Barudi, hockte sich neben seinen Stuhl und nahm seine rechte Hand in seine Hände. „Nein, das hast auch du nicht verdient.“
Langsam fing sich Barudi.