Tschüss Tegel
Man muss sich zwicken, aber es stimmt wirklich: Am Wochenende eröffnet Berlins neuer Flughafen BER. Das heißt auch: Die Hauptstädter müssen Abschied nehmen von ihrem bisherigen Airport Tegel. Einem Ort der kleinen Wege – und großen Gefühle
Berlin Der einjährige Kian gluckst vor Freude, als die Maschine der türkischen Linie Sun Express heranschwebt und zur Landung ansetzt. Flugzeuge hat er seit seiner Geburt mehr gesehen als manche Menschen in ihrem ganzen Leben. Er wohnt mit seinen Eltern in Berlin-Spandau, in Sichtweite des Hauptstadtflughafens Tegel. Weil der bald schließt, sind seine Eltern mit Kian noch mal auf die Besucherterrasse gekommen, die oben auf dem markant-sechseckigen Flughafengebäude thront. Kian bestaunt mit weit geöffneten Augen die Jets auf den langen Rollfeldern und die vielen Taxis auf der anderen Seite. Wie im Wimmelbuch, nur in echt.
Doch seine Mutter, Nakissa Imani-Zabet, hat die Wehmut gepackt. „Ich bin echt traurig, das ist jetzt schon ein richtiger Abschied, mein Leben lang habe ich praktisch in der Einflugschneise gewohnt.“Der Fluglärm habe sie nie gestört, sagt die 38-jährige Erziehungswissenschaftlerin. Noch gut erinnert sie sich daran, wie sie als Fünfjährige zum ersten Mal selbst in einem Flieger saß. „Wir haben Verwandte in Kalifornien besucht und sind mit einer glänzenden Boeing der PanAm geflogen.“Die US-Fluggesellschaft gibt es längst nicht mehr. Auch Berlin-Tegel wird bald nur noch ein Stück Luftfahrtgeschichte sein.
Am 8. November wird von hier aus das letzte Flugzeug starten, eine Maschine der französischen Air France nach Paris. Tegel war einst französischer Militärflughafen, 1960 begann die Air France noch auf der alten Anlage den Linienverkehr. So schließt sich der Kreis.
Bereits am Vortag wird das internationale Flughafenkürzel TXL aus den Systemen gelöscht. Eine Woche zuvor, an diesem Samstag, wird mit der Landung zweier Maschinen von Lufthansa und Easyjet der Betrieb auf dem neuen Hauptstadtflughafen mit dem Kürzel BER beginnen. Endlich, denn eigentlich hätte der Airport im Süden der Stadt schon 2011 fertig sein sollen. Doch der riesige Bau wurde zu einem peinlichen Symbol des Scheiterns, nichts funktionierte, und aus ursprünglich veranschlagten Baukosten von rund zwei Milliarden Euro wurden am Ende mehr als sieben. Gleich nebenan, im angestaubten Ostberliner Flughafen Schönefeld und eben in Tegel, musste unterdessen der rasant zunehmende Flugverkehr einer boomenden Stadt bewältigt werden.
Als Tegel 1974 nach vierjähriger Bauzeit eröffnet wird, um das alte Tempelhofer Rollfeld zu entlasten, gilt der Flughafen als einer der modernsten der Welt. Für den noch jungen Architekten Meinrad von Gerkan ist es das Meisterstück, das seinen Ruhm begründet. Er hat einen kühnen sechseckigen Baukörper gezeichnet, im inneren Ring können sich die Passagiere direkt vor die richtige Tür fahren lassen, ein paar Meter weiter checken sie ein und steigen in den Flieger.
Auf der Außenseite des Sechsecks befinden sich die Rollfelder und der prägnante Tower. Vielflieger haben gezählt, dass es vom Taxi bis in den Flugzeugsitz oft nur siebzig Schritte braucht. Dass ein Flughafen einer so großen Metropole derart kurze Wege aufweist, ist ungewöhnlich. Trotzdem erweist sich der Luftbahnhof
als äußerst leistungsfähig. Ursprünglich einmal für eine Kapazität von jährlich 2,5 Millionen Passagieren ausgelegt, nimmt das Fluggast-Aufkommen Jahr für Jahr zu.
Vor dem großen Einbruch durch die Corona-Krise sind es mit 24 Millionen Passagieren im Jahr fast zehnmal so viel wie einst kalkuliert. Dabei werden nur noch die allernötigsten Instandhaltungsarbeiten erledigt, Tegel gilt längst als Auslaufmodell. Damit, dass sich die BEREröffnung um neun Jahre verzögern würde, hatte ja niemand gerechnet.
So blättert überall an den Flughafengebäuden die Farbe ab, einst glänzende Metalloberflächen sind stumpf geworden. Tegel hält dem Andrang zwar irgendwie noch stand und droht doch im Laufe der Jahre immer mehr, aus seinen Nähten zu platzen. Am Ende ist der Provisoriumscharakter übermächtig. Zu klein für die vielen Passagiere, ungeeignet für die Bedürfnisse des heutigen Langstreckenverkehrs, kein Platz für Handel und Gastronomie – der Flughafen hat seine besten Zeiten längst hinter sich.
Auf dem Besucherdeck wächst Moos auf den abgetretenen Waschbetonplatten, die wirken wie die aus Omas Schrebergarten. Der Blick von Elke Katzmarczyk und Jacob Krieg aber richtet sich erstens nach oben und zweitens durch die Linsen ihrer Kameras. Ein weiß lackierter Jet der Lufthansa setzt gerade zum Landeanflug an. Krieg, 33, drückt mehrfach auf den Auslöser seiner digitalen Spiegelreflex mit dem sektflaschengroßen Teleobjektiv.
Katzmarczyk, 70, knipst sparsamer, sie benutzt noch ihre alten Fotoapparate, deshalb hat sie auch eine Ersatzkamera umhängen. Falls der Film mal im falschen Moment aufgebraucht ist. Nach wenigen Minuten hat der Lufthansa-Flieger seine Parkposition erreicht.
Jacob Krieg schießt jetzt weitere Bilder von der Seite. Er strahlt: „Die Airbus A319-100 mit der Kennung D-AIBJ – die hat mir in meiner Sammlung noch gefehlt.“Tausende digitaler Bilder von Flugzeugen und Hubschraubern hat er in seinem Computer gespeichert, fast alle aufgenommen in Tegel. Der Flughafen ist ein Paradies für sogenannte „Planespotter“. Deren Hobby ist es, Flugzeuge zu beobachten und zu fotografieren. Auf der Tegeler Besucherterrasse geht das besonders gut, denn sie ist nicht verglast wie an vielen anderen Airports. Das ermöglicht Aufnahmen ohne Spiegelungen. Zudem gebe es Stellen, an denen noch viel mehr Nähe zu den Fliegern möglich sei. Allerdings stört dann meist ein Maschendrahtzaun, der das Motiv ruiniert. Wer zum harten Kern der Planespotter gehört, hat deshalb irgendwo in der Nähe der guten Foto-Plätze eine Aluleiter deponiert. Krieg darf seine in einem Geschäft unterstellen.
Elke Katzmarczyk fasziniert Technik ganz allgemein, ein Berufsleben lang hat sie bei Siemens Gussmaschinen entwickelt. Sie knipst auch Schiffe und Eisenbahnen, doch Flugzeuge mag sie besonders. Sechsbis siebenmal im Monat kommt sie zum Flughafen Tegel, schon zur Einweihung vor 46 Jahren war sie da. Ihre Fotos hat sie auf hunderte säuberlich archivierter Pappbögen geklebt, beschriftet mit Datum, Flugzeugtyp und Besonderheiten.
Ihr aktueller Favorit ist der „Dreamliner“, die Boeing 787, ein modernes Langstreckenflugzeug. „Einfach eine tolle Maschine“, sagt sie. Dann verfinstert sich ihr Blick, das kann auch die Corona-Maske nicht verbergen. „Bald ist das ja nun vorbei, zum BER ist es für mich eine halbe Weltreise.“Auch Jacob Krieg, der kein eigenes Auto hat, fürchtet, dass er sein Hobby künftig stark einschränken muss. Beide Planespotter sind der Meinung, dass es ein Fehler ist, Tegel zu schließen. Dass auf dem BER alles funktionieren werde, sei ja noch längst nicht ausgemacht. Wenn sich die Pannenserie aus der Bauphase im laufenden Betrieb fortsetze, sei sogar zu befürchten, dass die Hauptstadt ohne funktionierenden Flughafen dastehe. „Die Politik macht halt, was sie will“, sagt Krieg.
Tatsächlich wird Tegel gegen den erklärten Willen der Berliner geschlossen. 2017 gibt es parallel zur Bundestagswahl einen Volksentscheid zum Weiterbetrieb des Flughafens. 56,1 Prozent der Teilnehmer sprechen sich dafür aus, dass weiter auch vom Norden der Hauptstadt aus geflogen wird.
Doch das Abstimmungsergebnis hat nur den Charakter einer Empfehlung – der die rot-rot-grüne Mehrheit im Abgeordnetenhaus nicht folgt. Der mit dem Volksentscheid gefasste Beschluss sei nicht umsetzbar, heißt es. Längst gibt es Pläne für die Nachnutzung. Ein großer Forschungs- und Industriepark schwebt der Politik vor, mit vielen Wohnungen und einem Freizeitgelände rund um den Flughafensee. Das Sechseck des Terminals soll als Architekturdenkmal erhalten werden und der Beuth-Hochschule für Technik Raum geben.
Mit dem Tegel-Aus muss auch die Flugbereitschaft der Bundeswehr auf das BER-Gelände im Berliner Süden umziehen. Mit ihren
Flugzeugen und Hubschraubern reisen deutsche Regierungsmitglieder und Parlamentarier zu Besuchen ins Ausland. Die schlichten weißen Abfertigungsgebäude auf dem militärischen Teil des Flughafens sind von der Besucherterrasse aus gut zu sehen. Innen verströmen sie den nüchternen Charme einer Bahnhofs-Wartehalle.
Der Flughafen Tegel sieht in all den Jahren viele Staatschefs und gekrönte Häupter. Hier betreten etwa die englische Königin Elizabeth II, das schwedische Monarchenpaar Carl Gustaf und Silvia, die US-Präsidenten George Bush und Barack Obama deutschen Boden. Ein Einwegticket löst der ehemalige Staatsratsvorsitzende der DDR. Erich Honecker bricht 1993 von Tegel aus ins Exil nach Chile auf. Der bekannteste Vertreter des untergegangenen sozialistischen „Arbeiter- und Bauernstaats“verlässt Deutschland ausgerechnet über den Flughafen im Westen, der jahrzehntelang für eine geteilte, von Mauern umgebene Stadt das Tor zur Welt war.
Im vereinten Deutschland wird es in Tegel dann noch lebhafter. Das liegt vor allem auch an Air Berlin, der inzwischen gescheiterten Fluglinie, die die neue deutsche Hauptstadt mit vielen Orten auf der Welt verbindet. Für kleines Geld. Unzählige Liebende in Fernbeziehungen profitieren davon. Bald gehören junge Paare, die sich beim Wiedersehen um den Hals fallen, mindestens so fest zum täglichen TegelWimmelbild wie die Rucksacktouristen und Geschäftsreisenden mit Aktenkoffer.
Tegel bietet beides: Die kleinen Freuden, wie die erste Currywurst mit Schmorzwiebeln und Pommes nach langem Berlin-Entzug. Serviert in einem umgebauten Tramwaggon.
Und die Momente für die Ewigkeit. Beispielsweise, als 2014 am Gate A00 der „Siegerflieger“mit der Fußball-Nationalmannschaft landet, die in Brasilien gerade Weltmeister geworden ist. Auf der Besucherterrasse brechen mehrere tausend Menschen in frenetischen Jubel aus, als Philipp Lahm den WMPokal in die Höhe reckt.
Aus und vorbei. In den letzten verbliebenen Läden im Terminal ist Ausverkauf, die edle Herrenboutique hat noch drei Hemden einsam an der Kleiderstange hängen. Wo sich Wiedersehensfreude und Abschiedsschmerz stets die Waage hielten, herrscht Trauerstimmung.
Versonnen steht Martina Eickmann auf dem windigen Besucherdeck, blickt aufs Rollfeld, wo gerade ein blauer KLM-Jet aus den Niederlanden ankommt, und zurück in die eigene Vergangenheit. Die Frau mit den grauen Locken und dem lilafarbenen Schal erzählt, dass ihr Mann jahrelang in Paris gearbeitet hat. „Ein Wechselbad der Gefühle war das.“Wie oft sie ihren Kindern, heute längst erwachsen, zum Abschied gewunken hat, als sie zu Besuchen aufbrachen, kann sie nicht genau sagen. Auch nicht, wie oft sie sehnsüchtig am Gate auf ihre Lieben gewartet hat, wie oft sie selbst in ein Flugzeug gestiegen ist. Der Flughafen sei „auch Teil unserer Familiengeschichte“. Die Berlinerin schießt noch ein paar Erinnerungsfotos, dann sagt sie „Tschüss Tegel“.
Seit Jahren hat man nur noch das Nötigste repariert
Wer ist hier nicht schon alles gelandet…