Wenn es sich für die Jugend ausgetanzt hat
Viele Aktivitäten, die zum „Jungsein“dazugehören, sind in Corona-Zeiten nicht mehr möglich. Juso-Chef Kevin Kühnert appelliert für mehr Verständnis gegenüber der Jugend und Psychologen warnen vor psychischen Folgen
Berlin/München Antonia hat schon lange keine Nacht mehr durchgetanzt – über ein Jahr ist das letzte Mal her. Vor drei Wochen aber besuchte sie eine Freundin in ihrer großen Studenten-WG. Etwa fünfzehn Leute haben dort gemeinsam gekocht, gelacht – und irgendwann den Tisch beiseitegeschoben und getanzt. Das schlechte Gewissen kam nicht, als sich der Nachbar wegen der lauten Musik beschwerte. Es kam erst zwei Tage später, als Antonia mit kratzendem Hals und trockenem Husten aufwachte.
Die Infektionszahlen sind seitdem rasant gestiegen, die Beschränkungen haben wieder zugenommen. Antonias kleine WG-Party war vor drei Wochen noch erlaubt; heute wäre sie illegal. Es gibt viele Vorwürfe, die sagen, die Jugend würde trotzdem rücksichtslos weiterfeiern und damit das Virus ungehemmt verbreiten. Verhält sich die Jugend in der Pandemie egoistisch – vielleicht, weil sie selbst von Covid-19 weniger gefährdet ist? Die neue Jugendstudie der Tui-Stiftung sagt etwas anderes: Über die Hälfte der Befragten zwischen 16 und 26 Jahren hält die Maßnahmen für angemessen, 83 Prozent halten sie nach eigenen Angaben ein. Lediglich zwei Prozent missachten sie. Die überwältigende Mehrheit der jungen Erwachsenen hält sich vor allem deswegen an die Maßnahmen, um die Gesundheit anderer zu schützen.
Es ist Freitag, fast eine Woche nach der WG-Feier, als Magdalena, die ebenfalls dabei war, in die gemeinsame Chatgruppe schreibt, sie habe sich heute wegen „Erkältungssymptomen“auf Corona testen lassen. Zwei Minuten später kommt die Nachricht von Antonia: „Bei mir ist es das Gleiche. Ich habe auch gerade den Test gemacht.“Die Sicherheit, der Husten komme daher, dass sie unter dem gekippten Fenster geschlafen habe, ist verschwunden. „So viel Spaß es gemacht hat – das, was wir gemacht haben, war schon bisschen dumm“, schreibt Antonia in die Gruppe. „Hoffentlich ist es falscher Alarm“, antwortet Magdalena.
In den vergangenen Wochen ist die Jugend als „Treiber der Pandemie“in den Fokus gerückt – bis auf wenige Ausnahmen jedoch zu Unrecht. Denn natürlich gibt es viele, die das gemeinsame, unbeschwerte Feiern vermissen. Es gibt auch ein paar wenige, die es trotz der Risiken immer noch tun. Doch es gibt vor allem auch viele junge Erwachsene
Jugendliche, die ernsthaft unter den Ängsten und Einschränkungen, die mit der Pandemie einhergehen, leiden.
Gerd Schulte-Körne ist Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität München und stellt fest: Viele Jugendliche leiden in der Krise unter depressiver Stimmung, haben häufig Schlafprobleme und machen sich schlichtweg mehr Sorgen um die Zukunft. Manche kämen aber auch in schwere Lebenskrisen und hätten lebensmüde Gedanken. Gerade Jugendliche, die sich in ihrer Pubertät eher von den Eltern abnabeln würden, müssen nun ihre Kontakte wieder überwiegend auf das familiäre Umfeld reduzieren. Das sei eine große Herausforderung, da in dieser Entwicklungsphase bestimmte soziale und emotionale Erfahrungen sehr wichtig seien, sagt Schulte-Körne. Der Soziologe MiCorsten nennt Beispiele: „Für Jugendliche werden Freundschaften und das erste Verliebtsein wichtig.“Es gebe zahlreiche Übergangsschritte zu bewältigen, die für die nächsten Lebensjahrzehnte entscheidend seien. Durch die Kontaktbeschränkungen kämen einige dieser Bedürfnisse jedoch zu kurz, findet Corsten. Das könne zu einer Art Wirklichkeitsverlust führen, sagt der Soziologie-Professor, der derzeit an der Universität Hildesheim über die Auswirkungen der Pandemie auf die Jugend forscht.
Oft hätten junge Menschen das Gefühl, Dinge „nicht richtig erleben“zu können. So sagen einige Jugendliche, ein Videotelefonat könne ein „wirkliches Gespräch“nicht ersetzen. Der Soziologe folgert: Begegnungen mit räumlicher Anwesenheit werde ein höherer Wirklichkeitsgrad zugeschrieben als Onlineund
Gesprächen. Doch kommuniziert die jüngere Generation nicht sowieso ständig über das Internet?
„Vor der Covid-19-Pandemie war das Internet mit seinen vielen Angeboten eine Möglichkeit, die freiwillig gewählt werden konnte und gesucht wurde“, sagt Soziologe Corsten. In Zeiten strenger Kontaktbeschränkungen sei es jedoch fast die einzige Kontaktmöglichkeit. „Das macht sie zu einem Notbehelf.“Auch Nora Gaupp vom Deutschen Jugendinstitut sagt: „Die Forschung zeigt, dass junge Menschen bei Freundschaften in beiden Welten – sowohl direkt und persönlich als auch digital – unterwegs sind.“
Kevin Kühnert, Bundesvorsitzender der Jusos, formuliert es so: Auch wer in der digitalen Welt aufgewachsen sei, würde nicht digital, sondern hybrid leben. „Dates kann man digital vereinbaren, aber gechael troffen wird sich weiterhin in Bars. Mit der Fußballmannschaft kann man im Gruppenchat den ganzen Tag schreiben, aber wichtig bleibt das Treffen auf dem Platz“, sagt der SPD-Politiker. Er appelliert daher für mehr Verständnis gegenüber der jüngeren Generation. „Menschen, die älter sind als 20, haben in ihrem Leben schon viele Krisen erlebt, darunter den 11. September oder die Wirtschaftskrise. Aber keine wird wohl so einschneidend sein wie die aktuelle.“
Es seien schließlich genau die Aktivitäten, die junge Leute gerne und oft tun, die durch Kontaktbeschränkungen eingeschränkt werden, sagt Psychologin Gaupp vom Deutschen Jugendinstitut. Sie ist sich dennoch sicher: „Auch wenn der Verzicht auf viele Dinge wie das Feiern mit Freunden schmerzt, muss das nicht notwendigerweise mit negativen Folgen für den weiteren Lebensweg der jungen Menschen einhergehen.“Sie sehe sogar einige potenziell positive Aspekte der Corona-Krise wie neue Formen von Engagement junger Menschen. „Die Bewegung Fridays
Benötigt es mehr Toleranz gegenüber der Jugend?
for Future etwa ging ins Netz und viele junge Leute sind für andere einkaufen gegangen oder haben sich um Smartphones, Tablets und PCs in der Familie gekümmert“, sagt die Psychologin. „Außerdem entstanden neue digitale Erfahrungsräume, zum Beispiel Feiern, Musik oder Sport übers Internet.“
Antonia und Magdalena, die Freundinnen von der WG-Feier, bekommen am Montag ihr Testergebnis: negativ. Die Erleichterung ist groß. „Im Nachhinein ist man immer schlauer“, schreibt Magdalena in die Chatgruppe. Aber so etwas Fahrlässiges wolle sie nicht noch einmal riskieren. Auch Antonia trifft sich mit Freunden jetzt nur noch zum Spazierengehen. Zu zweit, ohne Umarmung und ohne geteiltes Bier oder laute Musik.
Es sei wichtig, dass junge Menschen lernen, mit der neuen Verantwortung umzugehen und Solidarität zu zeigen, sagt Psychiatrie-Direktor Schulte-Körne.
Doch auch Erwachsene sollten den Jüngeren gegenüber toleranter sein. Es ist problematisch, die Generationen gegeneinanderzustellen – vielmehr gehe um ein gegenseitiges Verständnis für die Alltagsherausforderungen, sind sich die Psychologen einig.