Reise in den „Heiligen Krieg“
Ein Mann aus Augsburg soll in Syrien eine Terrorgruppe angeführt haben und erschossen worden sein. Eine Suche nach Erklärungen für seinen Werdegang, der kein Einzelfall ist
Augsburg Die Kondolenzanzeige erschien in der Nacht zum 8. Februar auf Facebook. Die Augsburger Kammgarn-Moschee trauerte. „Mehmet Ö. erreichte die Gnade Gottes“, hieß es auf der Seite. Die Anzeige sei für die Familie des Toten, dieser habe seine Taten selbst zu verantworten, sagt der Vorsitzende des Moscheevereins. „Mehmet war goldig früher. Ich habe ein bisschen geschwärmt für ihn“, erzählt eine ehemalige Mitschülerin, die mit ihm eine Augsburger Mittelschule besuchte. Sein Tod, aber vor allem die Umstände entsetzen sie. „Ein Terrorist? Ich hatte keine Ahnung.“
Einige Stunden vor dieser Facebook-Meldung wurde in Syrien ein Deutscher erschossen. In der nordwestlichen Provinz Idlib, nahe der Grenze zur Türkei, griffen zwei Männer auf einem Motorrad den Mann an, als er gerade vom Abendgebet aus einer Moschee kam. Sein Totenbild ging durch die TwitterWelt, beschäftigte internationale Analysten und syrische Nachrichten. Genannt wurde er Abu Yunus al-Almani – in seinem Augsburger Leben hieß er Mehmet Ö. In Idlib hatte er offenbar eine eigene Terrorgruppe aus Deutschen und Türken angeführt. Das bestätigt der dänische Islamismus-Experte Tore Hamming auf Anfrage unserer Redaktion. Demnach verdingen sich in der Provinz derzeit dutzende Deutsche als Kämpfer der Miliz Hayat Tahrir al-Sham. Auch Ö. gehörte dieser eine Zeit lang an.
Eine Bestätigung, dass es sich bei Mehmet Ö. um Abu Yunus handelt, geben Verfassungsschutz und Polizei nicht. Doch Zeitpunkt, Bildervergleiche und auch die Ex-Mitschülerin bestätigen die Übereinstimmung. Wie kam es, dass sich ein Mann aus einer nach ihren Angaben säkularen muslimischen Familie so radikalisierte, dass er in den „Heiligen Krieg“zog?
Seine Schwester möchte nicht mit unserer Redaktion sprechen. Ö. war Teil des salafistischen Milieus in Augsburg, das zwischen 2014 und 2016 an den „Lies!“-Tischen Korane verschenkte. Ein Sticker auf seiner längst gelöschten Facebook-Seite zeigte bereits 2013 das Zeichen der Salafisten, den erhobenen Zeigefinger. Dazu ein Text auf gelbem Grund: „Ein einziger Gott, eine Gemeinde, ein Kampf, ein Staat, ein Kalif“. Ein Reiter mit der schwarzen Fahne des IS und ein gedichtetes Bekenntnis auf Türkisch deuten schon damals an, wohin diese fundamentalistische Reise gehen könnte: „Ich bete keine Götzen an, kann ohne Koran nicht leben. Ich breche keine Ehe, hasse die Ungläubigen. Ich werde brausen wie die Flut, dem Märtyrertod entgegen. Weil ich Muslim bin. Meine Verfassung ist der Koran, mein Job die Zerstörung, Gottes ist das Gesetz. Weil ich Muslim bin.“
„Das ist ein Kampflied, ein klarer Aufruf: Erhebt euch!“, interpretiert Thomas Mücke. Der erfahrene Sozialarbeiter ist Gründer und Geschäftsführer des „Violence Prevention Networks“(VPN), das seit 2004 mit inzwischen 106 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen bundesweit Präventions- und Aussteigerprogramme für rechte und islamistische Extremisten anbietet. In Bayern ist VPN seit Ende 2015 als Dienstleister des Landeskriminalamtes (LKA) aktiv und betreut eine mittlere zweistellige Zahl bayerischer Islamisten, darunter auch Gefährder. „Bei Radikalisierung sehen wir klare Entfremdungsprozesse und das Gefühl ‚Ich bin Muslim und das ist nicht mein Land‘. Mit Kritik am ‚unislamischen‘ Leben von Eltern und Umfeld trennen sie sich langsam von allen unseren Lebensbereichen. Am Ende stehen die Echokammer und die psychische Abhängigkeit von der islamistischen Szene“, erklärt er. Hätten Moschee, Familie und Freunde die Radikalisierung von Ö. verhindern können? „Es gab in Bayern noch keine Beratungsstrukturen im islamistischen Bereich. Ich kann mir vorstellen, dass die Moschee der Sache nicht gewachsen war und auch gar nicht gewusst hätte, wohin mit ihren Fragen“, antwortet Mücke.
Laut dem aktuellen Verfassungsschutzbericht von 2019 gibt es in Bayern derzeit 770 Salafisten, zehn Prozent von ihnen sind Konvertiten. 150 Personen werden als gewaltbereit eingestuft. Laut Landeskriminalamt Bayern fuhren seit 2012 insgesamt 77 Muslime nach
Syrien, um sich dem Islamischen Staat oder anderen als terroristisch anzusehenden Gruppen anzuschließen. 21 sind zurück, von diesen sitzen derzeit drei in Haft.
Viele der Rückkehrer haben Bekanntschaft mit VPN gemacht. „Die Chancen auf Einsicht und Deradikalisierung stehen gut, wenn sie selbst innegehalten, sich Dinge bewusst gemacht und schließlich vor Ort von sich aus die Waffen abgelegt hatten“, resümiert Mücke. Sorgen machen ihm die, die von der kurdischen Selbstverwaltung gefangen genommen wurden und deren Rückholung derzeit politisch diskutiert wird. Aus Bayern befinden sich laut LKA aktuell sieben Menschen in kurdischer Gefangenschaft. „Diese Personen werden ideologisch sehr gefestigt und radikalisiert sein, da muss man sich nichts vormachen. Ich habe Zweifel, ob Sozialarbeit da noch was ausrichten kann und nicht doch konzentriertere Programme gefordert sind.“