Wunden einer Witwe
Tragödie Vor einem Jahr sterben vier Männer bei einem Unfall auf einer Baustelle bei Landsberg. Auch der Ehemann von Patricia. Nun gibt die Frau Einblick in ihr Seelenleben – und äußert ihr Unverständnis über so manches Handeln von Baufirma und Behörden
Landsberg Es ist ein schlichtes Holzkreuz, das an dem kleinen Gartenhäuschen steht. „Der beste Papa. Deine liebe Familie“, ist darauf zu lesen, gleich neben dem Haus einer Familie aus dem südlichen Landkreis Landsberg, die am 16. Oktober 2020 bei einem Unfall auf einer Baustelle in Denklingen ihren Ehemann und Vater verloren hat. Ein Unglück, bei dem vier Menschen starben. Hinter Witwe Patricia (Name geändert) liegen Tage, Wochen und Monate voller Schmerz. Nun ist sie bereit, sich die Trauer und den Ärger über das aus ihrer Sicht fragwürdige Verhalten der Baufirma und Versäumnisse der Behörden von der Seele zu reden.
Die Fotocollagen in Wohnzimmer und Küche erinnern an glückliche Zeiten. Als Patricia, 38, am Küchentisch Einblick in ihr Seelenleben gibt, wird schnell klar, wie sehr dieser Tag vor einem Jahr das Leben ihrer Familie und das von drei anderen auf den Kopf gestellt hat. Er beginnt damals untypisch. „Oft war mein Mann schon auf dem Weg in die Arbeit, wenn die Mädchen und ich noch geschlafen haben. An diesem Tag waren wir aber alle wach.“Patricia macht das Pausenbrot für die kleinen Töchter fertig und blickt ihrem Mann Markus (Name geändert), mit dem sie zu diesem Zeitpunkt seit rund zehn Jahren verheiratet ist, durch den Gang hinterher, als er das Haus verlässt.
Es ist ein verregneter Herbsttag, wie die anderen zuvor. Auf dem Gelände der Baufirma Schießl in
Denklingen im neuen Gewerbegebiet soll eine Betondecke errichtet werden, die zwei Gebäude miteinander verbinden soll. Bei den Arbeitern handelt es sich um fünf Angestellte des Unternehmens. Einer von ihnen ist Markus. Er hat am Morgen seiner Frau noch die rhetorische Frage gestellt, warum ausgerechnet bei diesem miesen Wetter betoniert werden soll. Der 37-Jährige ist ein erfahrener Maurergeselle. Doch er musste in den Jahren zuvor immer wieder spüren, dass es auf dem Bau schnell gehen muss. Ein gebrochenes Sprunggelenk, eine gebrochene Hand, ein geprellter Brustkorb und mehr stehen in seiner Krankenakte.
Die Glocken von St. Michael in Denklingen läuten 11 Uhr, als es einen lauten Knall gibt. Die tonnenschwere Konstruktion bricht in sich zusammen. Ein abseits stehender Mann wird leicht verletzt. Vier Kollegen jedoch im Alter von zweimal 37 Jahren, 34 und 16 Jahren werden unter der Konstruktion und flüssigem Beton begraben.
Patricia befindet sich zu Hause im Homeoffice, als die Feuerwehrsirene in ihrem Wohnort schrillt. Normalerweise würde ihr Mann mitausrücken, doch er ist ja in der Arbeit in Denklingen. Wenig später fahren Einsatzkräfte aus Dießen vorbei. Auf einem Fahrzeug steht „Katastrophenschutz“. „Da hat es mir die Luft abgeschnürt“, erzählt Patricia.
greift zum Handy und versucht es fünfmal bei ihrem Mann – vergeblich. Wenig später erhält sie eine Nachricht von einer Freundin, ob bei ihr „alles okay“sei. Sie antwortet: „Ja, schon.“Dann schickt ihr die Freundin einen NachrichtenLink vom Landsberger Tagblatt, der Lokalausgabe unserer Redaktion, die bereits online über das Unglück berichtet. Sie erkennt das Firmengelände auf dem Foto sofort – und hat eine böse Vorahnung.
Patricia kontaktiert einen befreundeten Polizisten, der im selben Ort wie sie lebt. Auf dem Weg dorthin mit ihren Eltern und den Töchtern im Auto hört sie Nachrichten im Radio. Auch da ist von dem Unglück die Rede. „Meine ältere Tochter hat gesagt: ,Der Papa arbeitet doch in Denklingen.‘“Die Mutter antwortet nicht.
Sie erreichen das Haus des Polizisten. „Als er mir die Tür aufgemacht hat, wusste ich es . . .“Was dann abläuft, gleicht den Szenen in einem Horrorfilm. Den vielen Einsatzkräften in Denklingen geht es nicht anders. Sie graben zum Teil mit bloßen Händen nach den Verschütteten. Gegen 13 Uhr wird der letzte von ihnen aus der Betonmasse geborgen. Keiner hat überlebt.
Gemeinsam mit ihrer Mutter erreicht Patricia Denklingen. Im Rathaus werden sie und weitere Angehörige von Bürgermeister Andreas Braunegger, einem Diakon und einem Vertreter der Feuerwehr betreut. „Keiner konnte uns sagen, was passiert ist. Keiner hat die richtigen Worte gefunden. Ich wusste nur, dass etwas eingestürzt ist und mein Mann mit anderen verschüttet war, und dass er es nicht überlebt hat. Es lief alles sehr unkoordiniert ab.“Einen Vorwurf will sie aber niemandem machen – „es standen ja alle irgendwie unter Schock“.
Gegen 15 Uhr erfährt die 38-Jährige von der Polizei offiziell, dass ihr Mann tot und sie Witwe ist. Und dass die Töchter ihren Vater verloren haben. Bis dahin ist es eine Phase des Wartens, Hoffens und Bangens gewesen. „Wir haben unsere Infos aus dem Internet und dem Radio erhalten“, erzählt sie.
Vor Ort reagiert sie aufgebracht. Sie wird mehrfach aufgefordert, an die Unfallstelle zu gehen, um sich von ihrem toten Mann zu verabschieden. Sie will das aber nicht und fühlt sich vor allem von einem Seelsorger genötigt. „Ich bin einfach gegangen. Ich habe gesagt: ,Ich habe mich heute früh von meinem Mann schon verabschiedet.‘“Sie will ihren Markus so in Erinnerung behalten, wie sie ihn zuletzt gesehen hat.
Die folgenden Tage legen sich wie ein dunkler Schleier über die Familie. Für einen Nachmittag hat sich die Kriminalpolizei angekündigt, um das Obduktionsergebnis mitzuteilen. Das kennt Patricia aber bereits aus den Medien; am Vormittag wurde berichtet, woran die Männer gestorben waren.
Markus wurde wie zwei seiner Kollegen erschlagen. Ein Kollege erstickte im Beton.
Für Patricia, ihre beiden Töchter und die Eltern ist es nicht der erste tragische Unglücksfall. Acht Jahre zuvor ist die Schwiegermutter bei einem Unfall gestorben, den ein be
Autofahrer verursacht hatte. Unfallort: Denklingen.
Sie bringt es nicht übers Herz, dass ihr Mann am 31. Oktober beerdigt wird – wie seine Mutter. Die Urnenbeisetzung findet einen Tag vorher statt. Anstelle einer Trauerfeier gibt es eine Party mit engen Freunden. „So wie er es sich gewünscht hätte. Ich habe ein Dirndl getragen“, sagt Patricia und lächelt.
Es ist das Lächeln einer Frau, die in den vergangenen zwölf Monaten stark geblieben ist, um den Töchtern den Verlust des Vaters erträglicher zu machen. Einer selbstbewussten Frau, die in der Geschäftsführung eines Medizintechnik-Unternehmens arbeitet.
Um das Haus, das ihr Mann mit eigenen Händen gebaut hat, halten zu können, steht für sie fest, dass sie weiter Vollzeit arbeiten wird. Ihre Eltern und enge Freunde unterstütSie
zen sie, so gut es geht. „Durch die Arbeit war ich immer gefestigt und in der Lage, alleine zu leben. Aber trotzdem: Mein Mann fehlt in jeder Minute.“
Minutengenau werden die Geschehnisse des 16. Oktober 2020 in einem ersten Gutachten erfasst. Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft arbeiten eng mit Experten zusammen. Der Vorwurf der fahrlässigen Tötung steht im Raum, wie die Polizei schnell durchblicken lässt. Im Mai 2021 wird das Gutachten vorgelegt. Erstmals bekommt Patricia über ihren Anwalt Einblick in das, was geschehen ist. „Seitdem habe ich Klarheit über die letzten Stunden meines Mannes und weiß, was an dem Tag passiert ist.“
Was zur Tragödie mit den vier Toten geführt hat, hält die Staatsanwaltschaft (noch) unter Verschluss. Im Sommer wird ein weiteres Guttrunkener
achten in Auftrag gegeben, das noch in diesem Jahr vorliegen soll. „Die gutachterliche Stellungnahme ist ein wichtiger Baustein bei der Aufklärung des Sachverhalts“, sagt der Augsburger Oberstaatsanwalt Andreas Dobler, der sich ansonsten bedeckt hält. Noch ist also offen, ob und gegen wen es zu einer Anklage kommt. War es eine Verkettung unglücklicher Umstände und damit ein Unfall oder hat jemand die Tragödie zu verantworten?
In den vergangenen Monaten wird im Landkreis Landsberg immer wieder darüber spekuliert, was der Auslöser für den Einsturz der Betondecke gewesen sein könnte. In Fachkreisen hört man, dass die Abstützung womöglich nicht ausgereicht hat. Nach dem Empfinden von Patricia hat die Baufirma in den vergangenen zwölf Monaten auch keinen angemessenen Umgang mit den Angehörigen an den Tag gelegt. Nur wenige Male sei sie vom JuniorChef kontaktiert worden, zuletzt, als es darum ging, anlässlich des Jahrestags an diesem Samstag an einer Gedenkfeier teilzunehmen.
Doch das will sie nicht. Sie will sich vor neugierigen Blicken schützen, die sie damals – drei Tage nach dem Unglück – bei einer Andacht am Unfallort überall gespürt hat. Von der Baufirma hätte sie sich in der Zeit danach mehr Nachrichten gewünscht, sagt sie. „Dass man öfter angerufen wird und man mal fragt, wie es den Kindern geht, oder dass man zu Weihnachten eine Karte schickt. Es geht nicht um Hilfe, sondern um Anteilnahme.“
Wie eng der Kontakt zu den Angehörigen in den vergangenen Monaten war, dazu will sich Niklas Schießl, der Junior-Chef des BauUnternehmens, auf Nachfrage unserer Redaktion nicht äußern. Der Unfall sei heute noch „ein sehr sensibles Thema“. Mehr wolle er aber nicht sagen und verweist in jedem Satz auf seinen Anwalt. Bis Ende des Jahres will die Firma den Neubau im Gewerbegebiet beziehen. Aus der vor einem Jahr provisorisch errichteten Gedenkstätte soll dann ein dauerhafter Gedenkort werden.
Finanzielle Hilfe haben die Angehörigen von der neugegründeten Bürgerstiftung Denklingen-EpfachDienhausen erhalten. „Unser langjähriger Feuerwehrkommandant hatte die Idee schon lange vor dem Unglück“, sagt Bürgermeister Andreas Braunegger.
Nach dem Unfall habe man relativ schnell die Stiftung gegründet.
Als die Kirchenglocken läuten, gibt es einen Knall
Für die Angehörigen wurde eine Stiftung gegründet
Braunegger ist Stiftungsratsvorsitzender. Dank vieler Spender habe man den Hinterbliebenen Ende 2020 insgesamt einen sechsstelligen Betrag überweisen können. Patricia ist überwältigt davon und der Gemeinde und den Spendern heute noch sehr dankbar.
Was ihr und den beiden Töchtern bleibt, sind die Erinnerungen an einen „wunderbaren Vater“. Markus, der Teilzeit arbeitete, lackierte den Mädels Fingernägel und war auch sonst für jeden Spaß zu haben. Auf psychologische Hilfe hat seine Frau bislang nicht zurückgegriffen. Stattdessen konnte sie sich dank der Hilfe einer langjährigen Freundin den lang ersehnten Wunsch eines kleinen Reitstalls erfüllen. Das sei auch immer der Traum ihres verstorbenen Mannes gewesen. Beim Reiten schalten sie und ihre Töchter gerne ab und denken an Markus.
Jetzt also der Jahrestag. Die Familie will, dass er so normal wie möglich abläuft. Die ältere Tochter hat in dieser Woche bereits gesagt: „Ich hasse jeden 16. Oktober.“Sie hat begriffen, wie schicksalhaft dieser Tag ist. In den Augen von Patricia ist der Schmerz ihrer Kinder viel größer als der eigene. „Den nehme ich auf mich. Entweder kämpfst du oder du lässt dich hängen.“
Die Erinnerungen an Markus werden jeden einzelnen Tag wach gehalten. Die Bilder im Haus sind der Beweis dafür.