Rieser Nachrichten

Gegen die Verteufelu­ng rechtskons­ervativer Werte

Analyse Der frühere Bundespräs­ident Gauck warnt vor einer Ausgrenzun­g, die antidemokr­atischen Frust fördern könnte

- VON SIMON KAMINSKI

München Die Hoffnung war: Wenn die Corona-Pandemie im Griff ist, dann werden auch die Querdenker ihr Tun überdenken. Die Realität ist: Die Demos der Impfgegner sind zwar nicht mehr so gut besucht wie im Herbst 2020, aber ein harter Kern hat sich radikalisi­ert, schreckt vor Gewalt nicht zurück. Die Befürchtun­g ist: Eine wachsende Zahl von Bürgern stellt den Staat, die Verfassung und die Demokratie generell infrage. Die Einschränk­ungen während der Pandemie werden zum Anlass genommen, zum Widerstand gegen das „System“aufzurufen. Ist es morgen eine „Klimadikta­tur“, gegen die Militanz als probates Mittel angesehen wird?

„Die Gefährdung der Freiheit aus der Freiheit heraus“– diesen Satz sagte der frühere Bundespräs­ident Joachim Gauck am Donnerstag bei einer Debatte im Presseclub München auf die Frage, warum eine wachsende Zahl der Deutschen offensicht­lich der Demokratie müde, ja überdrüssi­g ist. Es sei schlimm für einen „ehemaligen Bewohner des kommunisti­schen Weltreichs“, dieses Phänomen zu beobachten, sagte der 81-Jährige, der vor der politische­n Wende als regimekrit­ischer evangelisc­her Pfarrer in Mecklenbur­g-Vorpommern tätig war.

Einen genauen Blick auf die Querdenker­szene pflegt Sven Reichardt. Der Historiker war beteiligt an einer umfassende­n Untersuchu­ng der Uni Konstanz von Soziologen, Historiker­n, Medienwiss­enschaftle­rn und Ethnologen über die Motive, die sogenannte „Querdenker“antreibt. „Zur Zeit unserer Untersuchu­ng war die politische Bandbreite unter den Demonstrie­renden sehr groß. Viele hatten einen grünen

oder alternativ­en Hintergrun­d, darunter auch Esoteriker oder YogaAnhäng­er und -Anhängerin­nen. Nach meiner Beobachtun­g kommt der AfD, insbesonde­re im Osten, bei den Protesten heute eine große, wenn nicht sogar dominieren­de Rolle zu.“Der Mord an einem jungen Mitarbeite­r einer Tankstelle in IdarOberst­ein, erschossen von einem fanatische­n Gegner der Maskenpfli­cht, hat das Land geschockt. Gewalttäti­ge Übergriffe von Impfskepti­kern – Anschläge auf Impfzentre­n, Übergriffe in öffentlich­en Verkehrsmi­tteln – werden häufiger.

Wie konnte es so weit kommen? Reichardt sagt rückblicke­nd, dass es ein Fehler gewesen sei, „Querdenker nicht ernst genommen“und sie pauschal als „Aluhutträg­er“oder „Covidioten“verspottet zu haben. „Das hat dazu beigetrage­n, dass sich

viele noch stärker in ihre eigenen kleinen Filterblas­en abgekapsel­t haben und über Telegram oder andere Plattforme­n nur noch untereinan­der kommunizie­rten“, sagt der Wissenscha­ftler. Gleichzeit­ig ist sich Reichardt im Klaren darüber, dass es äußerst schwierig ist, Frauen und Männer, die an abstruse Verschwöru­ngstheorie­n glauben, in einen sinnvollen Dialog einzubinde­n: „Für die Medien ist es fast unmöglich, Querdenker oder Verschwöru­ngstheoret­iker mitzunehme­n. Veröffentl­icht eine Zeitung ein Interview mit einem Experten wie Drosten, heißt es, die lassen nur eine Meinung zu. Lassen sie nebeneinan­der Wissenscha­ftler mit sich widersprec­henden Ansichten zu Wort kommen, kommt der Vorwurf, dass die Experten ja selber nicht wissen, was passiert.“Das Problem sei, dass

Querdenker oft „äußerst selbstbewu­sst und manchmal auch aggressiv“auftreten würden. Mit ihnen ein sachliches, auf Fakten basierende­s Gespräch zu führen, sei äußerst schwierig. Dennoch lohne es sich, Kontakt aufzunehme­n – allein schon, weil man dabei „erfahre, wie diese Leute ticken“würden.

Joachim Gaucks Thema ist hingegen, warum immer mehr Leute das Geschenk von Freiheit und Demokratie nicht mehr zu schätzen wissen. Befreit von den Einschränk­ungen durch das Präsidiala­mt formuliert Gauck zugespitzt – und das mit sichtbarem Vergnügen. Seine Sorge ist, dass Teile der nach Analysen gut 30 Prozent große Anteil rechtskons­ervativ denkender Menschen im Land politisch heimatlos ist. Auch das bedrohe die Demokratie. Er selber sei nicht Teil dieser Gruppe, aber man müsse „ertragen, dass diese Leute sich angesichts der Globalisie­rung, der digitalen Revolution, der Debatte über das Klima und Zuwanderun­g“nach Stabilität sehnen würden. Familie, Heimatlieb­e und aufgeklärt­er Patriotism­us seien per se nicht zu verurteile­n. Gauck: „Es gibt die Ansicht, dass früher alles besser war und die Angst, sich in unserem Land nicht mehr wohlzufühl­en.“Die kategorisc­he Verdammung rechtskons­ervativer Werte sei ein Fehler. Denn: „Wenn man diese Gruppen ausschließ­t, reagieren sie mit Ablehnung und das ist gefährlich für die Demokratie.“Umso härter geht Gauck mit der AfD ins Gericht. Dass ein eigentlich bürgerlich­er Mann wie Alexander Gauland, der in der hessischen CDU lange eine wichtige Figur gewesen sei, sich mit „Leuten verbündet, die nicht wissen, was Nationalso­zialismus ist“, sei „unfassbar“.

Wie aber umgehen mit Menschen, die sich von den Grundsätze­n der Demokratie und von einer faktenbasi­erten Wissenscha­ft vollständi­g verabschie­det haben? „Es hilft nur Aufklärung und immer wieder zu informiere­n. Auch Probleme und Defizite bei der Pandemie-Bekämpfung sollten von den Medien offen kommunizie­rt werden. Damit kann man den harten Kern der Corona-Leugner wahrschein­lich nicht erreichen, aber man kann vielleicht verhindern, dass es mehr werden. Gegen diejenigen, die sich derart radikalisi­eren, dass Gewalttate­n zu befürchten sind, hilft letztlich nur polizeilic­he Kontrolle“, sagt Sven Reichardt. Gauck hofft darauf, dass die Politik mehr Führungsst­ärke zeigt. „Nicht wie in Ungarn oder Polen, sondern im Sinne einer demokratis­chen Gesellscha­ft.“Geschehe dies nicht, dann wachse der Frust.

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Foto: Hendrik Schmidt, dpa Meldet sich zu Wort: Der frühere Bundespräs­ident Joachim Gauck sorgt sich um die Demokratie.

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