Locker vom Hocker
Ausstellung Drei Bretter, zwei Kufen, ein Querstab – aus diesen Stücken hat Max Bill 1954 den „Ulmer Hocker“entworfen. Wie viel Philosophie in diesem Holzmöbel steckt und wie es bis heute Karriere macht, zeigt jetzt eine Ausstellung in Ulm
Ulm Drei Fichtenbretter, dazwischen ein Stab, darunter zwei Kufen – man muss kein Poet sein, um dieses Möbelstück zu beschreiben. Aber nur mit etwas mehr Gefühl lässt sich der Mythos besser begreifen: Wie man ihn auch dreht und wendet und kippt, so verwandelt sich der „Ulmer Hocker“. Mal verschließt er sich dem Blick in sein Inneres und zeigt nur seine hölzernen Seiten, mal liegt oder steht er offen da. Was dieses Meisterwerk der Sitzmöblierung zusammenhält: An seinen Kanten greifen Fingerzargen wie Zahnrädchen vollendet ineinander. Kurze Atempause – so viel Worte um einen einfachen Hocker? Ja, manchmal provoziert das Schlichte die Fantasie.
Das Vorbild für dieses Designerstück, das 1954 in Ulm entwickelt wurde, soll ein schnöder StandardTapezier-Hocker gewesen sein – besagt die Legende. Und das sieht man dem Ulmer Hocker heute noch an. Weder üppige Schönheit noch bequem, wie kann so ein Möbel Karriere machen? Wie wurde es Kultund Sammlerobjekt? Dieser Frage geht gerade eine Ausstellung auf den Grund – an jenem Ort, wo der „Ulmer Hocker“entstand.
„Idee, Ikone, Idol“heißt der Untertitel der Schau im HfG-Archiv Ulm. Und wer hat diese Ikone erfunden? Ein Schweizer. Max Bill – Designer, Architekt, Maler und mehr – studierte schon mit 18 Jahren am Bauhaus Dessau. Die Philosophie der
Der Ulmer Hocker steht in der BauhausTradition
Gestaltung, die er dort erlebte und genoss, trug er Jahre später nach Ulm: Hier auf dem Kuhberg, hoch über der Stadt, gründete er 1953 mit Otl Aicher und Weggefährten die Hochschule für Gestaltung. An diesem Fleck im Grünen entwickelten Dozenten, Professoren mit Studierenden einen neuen Stil, im Bauhaussinn. Design sollte weder Macht demonstrieren noch manipulieren, sich von Bombast befreien. Brauchbar für jedermann und somit grunddemokratisch – so sollten die Produktentwürfe der HfG sein. Vom Braun-Rasierapparat bis zum Plattenspieler.
In diesem Geist – und gemeinsam mit dem Niederländer Hans Gugelot – entwickelte Bill ein Modell, das zum Symbol und Kassenschlager der HfG aufsteigen sollte. Der Hochschul-Werkstattmeister Paul Hildinger warf dafür seine Maschinen an, eine spezielle Wanknutsäge mit wankendem Sägeblatt. Und so wurde der Hocker geboren. In den betongrauen Kammern und Sälen der HfG eroberte er bald schon alle Winkel,
Teil der Grundausstattung in jedem Raum. Teil des Lebens.
Die Ausstellung im Archiv schlägt eine kleine Bibliothek an Büchern auf. Texte aus der Fachliteratur lassen ahnen, wie weit der Ruf des Hockers reicht: Bauanleitungen auf Niederländisch, japanische Texte, englische und spanische allemal. Neben Lobeshymnen klingt manche Beschreibung wie eine Warnung an Stubenhocker. Der Reclam-Band „Klassiker des Produktdesigns“attestiert: „Bequem ist der Hocker allerdings nicht, und soll er wohl auch nicht sein: Da das Sitzen schnell unbequem wird, muss der Nutzer seine Position ständig ändern, was nicht nur seine körperliche Beweglichkeit garantiert“. Dieses Möbel bewegt seine Besitzer. Das ist pure Absicht.
Steckbrief eines Klassikers: 40 Zentimeter hoch, 44 breit, 30 tief, Gewicht 2 Kilo. Spitzname: der „rechte Winkel von Ulm“. Für Heimwerker ist dieses Modell ein
Projekt für den Hobbykeller, und was sich gut verkauft, wird oft kopiert: In der HfG stapeln sich Variationen des Hockers. Modelle aus aller Welt, Fortentwicklung wie Persiflagen – Zeichen der Verehrung. Ein Tipp gegen Fälschung und Betrug: Ulmer Hocker gibt es nur echt mit 17 und 18 Zargen.
Aber warum begeistert dieses Möbel? Vielleicht fasst es die Notiz eines HfG-Studenten, mit Schreibmaschine getippt, am besten zusammen. Er zitiert Sokrates: „Dann nur ist ein Gegenstand schön, wenn er durch uns oder durch die Natur so gemacht ist, dass er sich den Zwecken anpasst, zu denen wir ihn gebrauchen wollen.“Wozu das Ulmer Möbel taugt, zeigen Fotos aus HfG-Tagen, schwarz-weiß bis 60er-Jahre-bunt: Der Gestalter Tomás Maldonado doziert an der Schiefertafel über Semiotik – vor ihm liegt ein gekippter Hocker als Redepult. Nächste Szene: Getümmel in der Mensa, Mittagswurde
pause auf Holzschemeln. Und Leben mit Genuss: Im Grünen vor der HfG legt eine Frau in Orange ihr Brotzeitbrett auf den Holzwürfel, um Grillgut zu schnippeln. Wozu das Stück noch gut ist, zeigt auch eine aktuelle Fotosammlung: Menschen, die den
Ein Hocker für jeden nur denkbaren Zweck
Klassiker heute als Garderobe an die Wand genagelt haben, als Spieltisch oder für Bauchmuskeltraining nutzen. Leben mit, auf, um den Hocker.
1968 endete der Lehrbetrieb am Kuhberg. Der direkte Draht zur Schemelgeschichte führt heute nach Zürich zu Jakob Bill – Max’ Sohn. Der Künstler, geboren 1942, spricht mit Liebe vom Hocker: „Das sind für mich Jugenderinnerungen.“Als sein Vater nach Zürich heimkehrte, habe er seinen Hausschreiner beauftragt, das Modell aus Schwaben nachzureizvolles
bauen. Auf der Rechnung notierte der Handwerker dann wenig ehrfürchtig: „Kistchen gemacht“– das amüsiert Jakob Bill bis heute.
Der Manufactum-Katalog – „Es gibt sie noch, die guten Dinge“– listet den Hocker heute für 239 Euro. Olaf Scholz hat das Modell sogar einmal an Kollegen verschenkt. Das belegt ein Twitter-Bild, es zeigt ihn in einer Reihe von Schlipsträgern und Frauen in Kostüm, auf Hockern. Es waren die Finanz- und Wirtschaftsminister Europas. „Der Hocker steht für smartes demokratisches Design „Made in Germany“, schrieb Scholz zum Bild. Vielleicht steht auch bald so ein Exemplar im Kanzleramt. Dann aber wohl mit Extra-Komfort. Einen Luxus hatte sich schon die Ministerinnen-Runde für das Gruppenfoto gegönnt – Sitzpolster.
Ausstellung bis 27. Februar 2022 im HfGArchiv Ulm. Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag, ab 11 Uhr.