Rieser Nachrichten

Weil Naivität eben kein Verbrechen ist

Die Kritik an den propalästi­nensischen Demonstrat­ionen an den Unis ist laut. Doch wir müssen wieder lernen, dass Streit auch ohne Handschell­en und Blaulicht funktionie­rt.

- Von Margit Hufnagel

Dass deutsche Universitä­ten Orte der politische­n Aufwallung waren, ist lange her. Brav sind sie geworden, die Studentinn­en und Studenten. Das höchste der Gefühle schienen Diskussion­en um vegane Hauptgeric­hte in der Mensa und das Gendern in der Vorlesung. Ein starres Studiensys­tem, aber auch eine Gesellscha­ft, in der Konsens ein Wert an sich ist, verfehlten ihre Wirkung nicht. Doch seit einigen Tagen rumort es auf den Fluren und Höfen vieler Hochschule­n. Der Krieg im Gazastreif­en hat seine Lunte nicht nur im Nahen Osten gelegt, sondern auch in Berlin, Leipzig oder Köln. Es kokelt. Zeltstädte wurden aufgebaut, Protestsch­ilder gemalt. Die Demonstran­ten verurteile­n die Militärein­sätze, die Israel seit dem Attentat des 7. Oktober im Gazastreif­en unternimmt.

Nicht allen, die hier mit Palästinen­sertuch um den Hals die Faust in den Himmel recken, dürfte es um die Menschen gehen, die unter diesem Krieg leiden. Wo sind sonst die Uni-Proteste gegen die Gewalt im Sudan, gegen die Schreckens­herrschaft in Afghanista­n, gegen das frauenvera­chtende Regime im Iran? Vorurteile und Halbwahrhe­iten mischen sich mit berechtigt­er Sorge vor dem, was noch geschehen wird im Kampf zwischen Israel und der Hamas. Aufgeregte Parolen von Politikeri­nnen und Politikern mischen sich mit Rufen nach einem Verbot der Protestcam­ps. „Fassungslo­s“zeigte sich etwa Bildungsmi­nisterin Bettina Stark-Watzinger. Es sei ihr zugestande­n. Nur: Ändern wird sie damit nichts. Und das ist auch gut so. Denn die Gaza-Proteste sind ein Lehrstück darüber, woran es vielen Menschen hierzuland­e mangelt: die Fähigkeit, auch einmal etwas auszuhalte­n, was der eigenen Überzeugun­g widerspric­ht. Natürlich: Jede Gesellscha­ft definiert ihre eigenen Werte. Und die gilt es zu verteidige­n. Dass Deutschlan­d besonders sensibel reagiert, wenn es um den Staat Israel und alle dort lebenden Menschen geht, ist eine der wichtigste­n Lehren, die wir aus der Geschichte

gezogen haben. Aber nicht immer sind Handschell­en und Blaulicht die richtigen Mittel. Schon gar nicht auf einem Campus. Wer reflexarti­g nach der Polizei ruft, sollte sein eigenes Verständni­s von Meinungsfr­eiheit zumindest hinterfrag­en. Nur weil es, wie in diesem Fall, der „richtigen“Seite dient, heißt das nicht, dass alle, die einen anderen Blick auf die Dinge haben, schweigen müssen. Nein, auch Naivität und politische Kurzsichti­gkeit sind nicht verboten. Viel mehr noch: Es ist eine der größten Errungensc­haften eines demokratis­chen Rechtsstaa­tes, dass er auch all jene schützt, die ihn herausford­ern. Wer das infrage stellt, mag sich moralisch überlegen fühlen, ist aber in Wirklichke­it vom Argumentat­ionsmuster eines Wladimir Putin oder eines Xi Jinping direkt auf der Spur. Wenn die Schwelle zum Strafbaren überschrit­ten wird, soll und

muss der Staat handeln – und zwar unmissvers­tändlich. Dazu gehört die strikte Verfolgung antisemiti­scher Straftaten. Dazu gehört mit Blick auf die Universitä­ten selbst die Pflicht, allen jungen Menschen ein Studium ohne Bedrohung zu ermögliche­n. Sollten jüdische Studierend­e Angst haben, den Campus zu betreten, liegt es in der Verantwort­ung der akademisch­en Leitung, dem vehement entgegenzu­treten. Was sie nicht garantiere­n kann, ist – so schwer das manchmal auszuhalte­n sein mag – abweichend­e politische Meinungen, die lautstark vorgetrage­n werden, zu unterbinde­n. Gerade eine Universitä­t ist ein Ort der Auseinande­rsetzung mit anderen Haltungen, ein Ort der Kontrovers­e. Im Nahostkonf­likt sei ohnehin vor einfachen Antworten gewarnt. Und zwar auf beiden Seiten. Begonnen hat den Krieg die Hamas, die Israel seit Jahrzehnte­n mit Terror

überzieht. Doch auch die in Teilen rechtsextr­eme Regierung von Benjamin Netanjahu muss sich fragen lassen, ob sie den Ansprüchen, die zu Recht an ein zivilisier­tes Land gestellt werden, wirklich gerecht wird. Für die Demonstran­ten gilt: Wer Mitleid mit den Zivilisten in Rafah hat, ist nicht automatisc­h ein Antisemit. Er muss noch nicht einmal genauso viel Mitleid mit den in Tunneln darbenden israelisch­en Geiseln haben. Empathie ist nichts, was wir von anderen einfordern können. Wenn junge Frauen in bauchfreie­n Oberteilen ihre Sympathie für Steinzeit-Islamisten bekunden, dürfen wir den Kopf schütteln – ihnen den Mund verbieten dürfen wir nicht. Wer sich an den Demonstrat­ionen stört, kann Gegendemon­strationen organisier­en. Wie das geht, haben vor einigen Wochen Hunderttau­sende Menschen in Deutschlan­d gezeigt.

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Foto: Paul Zinken, dpa Menschen protestier­en auf dem Gelände der Humboldt-Uni Berlin gegen den Krieg im Gazastreif­en.

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