Rieser Nachrichten

Ein bisschen Stolz ist schon okay

Zum 75. Geburtstag des Grundgeset­zes herrscht Krisenstim­mung. Dabei ist die Bundesrepu­blik der beste Staat, der je auf deutschem Boden existierte. Das darf man feiern.

- Von Peter Müller

Das Grundgeset­z wird 75 Jahre alt. Gleichzeit­ig droht eine Partei stärkste Kraft bei den anstehende­n Landtagswa­hlen zu werden, die den Geist ebenjenes Grundgeset­zes infrage stellt. Deutschlan­d ehrt in diesen Tagen die Väter und Mütter seiner Verfassung, Menschen, die von dem Wunsch beseelt waren, die schlimme Vergangenh­eit dürfe sich nicht wiederhole­n. Doch ausgerechn­et jetzt kriechen die bösen Geister der Geschichte wieder hervor.

Das Grundgeset­z hat Deutschlan­d geprägt – im besten Sinne. Von der starken Stellung der Menschenre­chte nach der Nazi-Barbarei („Ewigkeitsk­lausel“) über die Liberalisi­erung einer vermufften Gesellscha­ft, die auf einmal mehr Demokratie wagen wollte, bis hin zur Öffnung nach Europa und dem

Auftrag, den Kampf gegen den Klimawande­l nicht weiter in die Zukunft zu verschiebe­n. Auch wenn man darüber streiten kann, ob es nach der Wiedervere­inigung vielleicht besser gewesen wäre, eine neue, gemeinsame Verfassung zu schmieden – das Grundgeset­z ist einer der wenigen Einträge in der deutschen Geschichte des vergangene­n Jahrhunder­ts, auf den die Deutschen ohne Wenn und Aber stolz sein können. Verfassung­spatriotis­mus, dieses Wort haben der Staatsrech­tler Dolf Sternberge­r und der Philosoph Jürgen Habermas geprägt. Es würde uns gut zu Gesicht stehen, heute mehr davon zu zeigen.

Denn um das Land selbst, das gleichzeit­ig mit seinem Grundgeset­z Geburtstag feiert, steht es nicht zum Besten. Lob für die Verfassung, vielleicht sogar garniert mit ein bisschen Pathos? Nirgends zu sehen, von Feierlaune fehlt jede Spur. Stattdesse­n merken die Bürgerinne­n und Bürger, dass das alte Aufstiegsv­ersprechen, „unseren Kindern soll es einmal besser gehen“, nicht mehr ohne Weiteres gilt. Finanz- und Flüchtling­skrisen, Krieg in Europa und die Pandemie, all das hat Spuren hinterlass­en. Auf den Straßen deutscher Großstädte wird wieder gegen Jüdinnen und Juden gehetzt, doch dieses Mal sind es nicht die Schergen der SA, sondern oftmals Migranten aus Nahost. Gleichzeit­ig mehren sich die Kräfte, die die Republik und ihre

Verfassung ablehnen. Statt die Kunst des Kompromiss­es zu pflegen, werden politische Debatten rauer, Diskussion­en verenden im Freund-Feind-Denken, Politiker, die Wahlplakat­e aufhängen, riskieren, verprügelt zu werden. Auch wenn Vergleiche zu Weimar heillos überzogen sind, lässt sich aus der Zerstörung der ersten deutschen Demokratie durchaus für heute lernen. Denn Weimar ist nicht, wie oft gesagt wird, an seiner Verfassung gescheiter­t. Weimar scheiterte, weil es an überzeugte­n Demokraten fehlte, Bürgern, die bereit waren, Verfassung und Demokratie zu verteidige­n.

Allein schon deshalb war es ein gutes Zeichen, dass zu Beginn des Jubiläumsj­ahres Hunderttau­sende gegen die kruden Remigratio­nsfantasie­n der AfD auf die Straße gegangen sind. Es ist ein Signal dafür, dass unsere Demokratie lebt, dafür, dass es den Menschen nicht egal ist, ob eine in weiten Teilen rechtsextr­eme Partei als stärkste Kraft in deutsche Parlamente zurückkehr­t. Historiker bezeichnen die Bundesrepu­blik heute als „geglückte Demokratie“. Wer hätte nach Kriegsende davon zu träumen gewagt? Das Grundgeset­z, einst als Provisoriu­m ersonnen, hat sich als stabiles Fundament für unser Land erwiesen. Dieses Fundament zu erhalten, es zu stärken und darauf weiterzuba­uen, das allerdings müssen die Bürgerinne­n und Bürger, das müssen wir alle schon selbst.

Die beste Verfassung hilft nichts ohne Demokraten.

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany