„Hey, Hilfe“oder „Heil Hitler“?
Eine 40-Jährige soll auf einem Festival im Ries Naziparolen gerufen haben, vor Gericht schildert sie anderes. Eine Zeugin sagt: „Die Kinder hatten Angst.“
Es ist eine Szene des Elends, wie sie sich wohl auf einem Festival im Nordries abgespielt haben soll: Eine 40-jährige Frau liegt betrunken vor ihrem Zelt, in der einen Hand hält sie eine Bierflasche, die andere Hand hebt sie zum Hitlergruß. Mehrfach, schätzungsweise fünfmal ruft sie dabei „Heil Hitler!“und „Sieg Heil!“. Ihre minderjährigen Kinder laufen in der Nähe des Zelts herum und sind verängstigt. So schildert es eine 32-jährige Postbotin am Dienstag vor dem Amtsgericht. Sie hatte den Vorgang von ihrem nur wenige Meter entfernten Zeltplatz an jenem Freitagnachmittag des 9. Juni vergangenen Jahres beobachtet. Die Postbotin war die Hauptzeugin in der Verhandlung. Auf ihre Aussage, die sie bei der Polizei im Anschluss gemacht hatte, stützte sich die Anklage der Staatsanwaltschaft, die der 40-Jährigen das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen vorwarf. Die Frau selbst sah das ganz anders.
Die Postbotin führte vor Gericht aus, dass die Lage schon am Donnerstag beim Zeltaufbau angespannt gewesen sei. Immer wieder seien derbe und vulgäre Schimpfworte wie „Arschloch“und „Penner“von der Angeklagten gefallen. Der nächste Tag sei dann eine „Katastrophe“gewesen, da die Angeklagte sehr betrunken gewesen sei und auch gegenüber ihrem kleinen Kind derb-sexualisierte Beleidigungen ausgestoßen habe. Sie habe sich vor ihr Zelt geworfen und die besagten Naziparolen vor sich hingesagt und dabei den Arm zum Hitlergruß erhoben.
Dann sei der Freund der Angeklagten gekommen und habe sie beruhigen wollen, doch sie habe mehr Bier von ihm verlangt. Weil er ihr dies jedoch verweigert habe, habe sie angefangen, auf ihn einzuschlagen. Die Kinder der Angeklagten seien auf die Zeugin zugelaufen. „Die Kinder hatten Angst, das hat mir so wehgetan“, sagte die Postbotin. Sie wollte Hilfe holen und ging zur Security. Diese brachte Polizeibeamte in Zivil mit.
Die Polizeioberkommissarin schilderte ebenfalls als Zeugin vor Gericht, wie sie die Angeklagte vor ihrem Zelt „sichtlich betrunken und eingenässt“vorfand, 30 bis 50 andere Festivalbesucher hätten sich in der Nähe aufgehalten. Die Polizistin weckte die Frau auf und verwies sie des Campingplatzes. Dabei sei es fast zu Widerstandshandlungen gekommen.
Die Angeklagte selbst stritt die Vorwürfe ab. Es handle sich um ein Missverständnis: Sie sei wegen starker Bauchschmerzen vor ihrem Zelt gelegen und habe in Richtung ihres Freundes mehrmals „Hey, Hilfe!“gerufen, nicht „Heil Hitler!“. Sie sei auch nicht stark alkoholisiert gewesen, sie habe nur ein Bier getrunken. Im Anschluss an den Platzverweis wurde sie im Nördlinger Krankenhaus behandelt. Ein ärztlicher Befund bescheinigte innere Blutungen im oberen Verdauungstrakt. Die Ursache: chronischer Alkoholmissbrauch. Die letzte von fünf Entzugsbehandlungen sei erst kürzlich erfolgt, sagte die Angeklagte in der Verhandlung. Das Vorstrafenregister weist fünf Eintragungen auf, dreimal ist sie bereits in offener Bewährung straffällig geworden. Die Angeklagte ist weder sozial noch wirtschaftlich in die Gesellschaft eingebunden. Verteidiger Alexander Knief argumentierte, dass die „Heil Hitler“-Rufe in dem Tumult auf dem Zeltplatz auch von jemand anderem gekommen sein könnten und dass die Postbotin sich täuschen könne; er forderte Freispruch. Richterin Angela Gastl folgte in ihrem Urteil Staatsanwältin Anna-Lena Steinle, die vier Monate Freiheitsstrafe ohne Bewährung gefordert hatte. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.