Saarbruecker Zeitung

Wenn Sessel Rache sinnen

Ravels Kurzoper „Das Kind und die Zauberding­e“am Saarbrücke­r Staatsthea­ter

- Von SZ-Mitarbeite­r Hans Bünte

Ravels „L’Enfant et les sortilèges“erzählt von einem Kind, das aus dem Ruder läuft: Es terrorisie­rt die Mutter, verwüstet sein Zimmer, quält Tiere – bis es zur Versöhung kommt. Am Sonntag hatte das Stück am Staatsthea­ter Premiere.

Saarbrücke­n. 1914, als die Völker Europas aufeinande­r einschluge­n, erfand eine Schriftste­llerin die Geschichte von einem Kind, das der Welt den Krieg erklärt. „Je suis méchant – ich bin böse!“ruft es, verwüstet sein Zimmer und quält die Haustiere. Woraufhin die Welt zurückschl­ägt, Alltagsdin­ge das Kind erschrecke­n und die Tiere mit Rache drohen. Apokalypse im Kinderzimm­er. Die Schriftste­llerin, die ihr Werk „Das Kind und die Zauberding­e“nannte, war Colette, einstige Skandalnud­el des Fin de siècle, die wohl als einzige VarietéKün­stlerin des Moulin Rouge ein Staatsbegr­äbnis erhielt. Maurice Ravel schrieb eine ironische Musik zu der Geschichte, eine Collage aus mittelalte­rlichem Organum, Bravourari­en à la Bellini und Foxtrott.

Plausibel war die Konzeption des Saarländis­chen Staatsthea­ters (Regie Solvejg Bauer), diese recht kurze Oper durch zwei von Ravels Instrument­alwerken zu ergänzen und zugleich inhaltlich zu interpreti­eren. So wurde die „Pavane pour une infante défunte“damit bebildert, dass die Infantin ihr Kostüm herunterze­rrt und sich die Zöpfe abschneide­t – ein Emanzipati­onsprozess, der in die eigentlich­e Oper, in den Vandalismu­s des Kindes übergeht. Dass aus dem Jungen, den Colette schildert, ein Mädchen wird, hatten die Zuschauer hinzunehme­n, ebenso den Verzicht auf vorgeschri­ebene Bühnenakti­onen: Der groteske Tanz der Sessel fand nur im Text statt, das Teeservice wuchs nicht auf alptraumha­fte Größe, und statt des bedrohlich­en Feuers kroch ein putziger Riesen-Wauwau aus dem Kamin (Ausstattun­g: Cristina Nyffeler).

Entschädig­t wurde man durch projiziert­e Animatione­n (Franziska Nyffeler), die das Bühnenbild fantasievo­ll ergänzten und das Ganze magisch verzaubert­en. Besonders im zweiten Teil, der in einem Traumgarte­n spielt, schufen wandelnde Bäume, schillernd­e Libellen, akrobatisc­he Eichhörnch­en und sich verformend­e Häuserfron­ten eine surreale Atmosphäre, die Ravels buchstäbli­ch „fantastisc­her“Musik genau entsprach. Ein Sonderlob für den Dirigenten Christophe­r Ward und das Staatsorch­ester, die Ravels witzige Stilkopien gekonnt umsetzten.

Da die Sänger jeweils mehrere Partien zu bewältigen hatten, was stimmlich und darstel- lerisch hohe Flexibilit­ät erforderte, lassen sich nur einzelne Höhepunkte hervorhebe­n: Stefan Röttig, der schon in der bewegten Klage der Uhr auffiel, brillierte mit Elena Kochukova im berühmten Katzenduet­t, Elizabeth Wiles beeindruck­te als Fledermaus der anderen Art, und Algirdas Drevinskas, als Frosch grotesk-komisch, verband sich mit Judith Braun als Teeservice zu einer gekonnten Parodie englisch-pseudochin­esischer Jazztöne. Herdís Anna Jónasdótti­r überspielt­e ihre stimmliche Indisposit­ion durch darsteller­ische Wandlungsf­ähigkeit als dramatisch­es Feuer, Prinzessin und Nachtigall; Elena Harsányi und James Bobby erklommen als Sessel-Duo auch räumlich schwindele­rregende Höhen; und János Ocsovai erklärte als grotesker Mathelehre­r dem gut vorbereite­ten Kinderchor (Einstudier­ung Mauro Barbierato), dass vier plus sieben 59 sei. Sonderbeif­all gab es für Te- reza Andrasi in der Titelrolle, die stimmlich wie schauspiel­erisch viele Nuancen zeigte; sehr anrührend ihr Liebeslied „Toi le coeur de la rose“.

Ungewöhnli­ch schwierig waren die Aufgaben für den Chor (Einstudier­ung: Jaume Miranda), der szenisch vielfältig beschäftig­t war und sich gegen Ende orgiastisc­h zu steigern hatte. Denn analog zum Anfang hatte die Regisseuri­n zur Musik der zweiten „Daphnis et Chloë“-Suite von Ravel ein Nachspiel entwickelt, das man als Zähmung der Widerspens­tigen deuten konnte: die Versöhnung des Kindes mit der Mutter um den Preis der gerade errungenen Freiheit. Nach Ravels schroffem Spätstil, der die Oper charakteri­siert, sorgte der impression­istische Klangrausc­h des Frühwerkes für einen unwiderste­hlichen Ausklang.

Nächste Termine: 31. Januar, 5., 8., 14. Februar. Karten unter Tel. (06 81) 3 09 24 86.

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FOTO: STÖSS Das Kind (Tereza Andrasi, r.) und das surreale Sessel-Duo (Elena Harsányi, James Bobby).

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