Radikal, charismatisch, kompliziert
Malcolm X ist auch 50 Jahre nach seinem gewaltsamen Tod umstritten, dennoch verehren ihn schwarze Amerikaner als den Mann, der ihnen zu ihrer Würde verhalf
Er war groß, gut aussehend, von flammender Redekraft und unerbittlich: Für viele Afroamerikaner war Malcolm X in Zeiten der Rassendiskriminierung ein Idol. Vor 50 Jahren wurde er erschossen.
Washington. Es ist der 21. Februar 1965. Im Audubon, einem Ballsaal in Harlem, haben sich an die 300 Menschen versammelt, um Malcolm X, den charismatischen Prediger schwarzen Selbstbewusstseins, reden zu hören. Kaum hat er die Bühne betreten, fangen zwei Männer einen Streit an, worauf zwei seiner Leibwächter nach hinten eilen, um die Raufenden zu trennen. Damit lassen Charles Blackwell und Robert Smith ihren Schutzbefohlenen vorn am Pult allein. Ein fataler Fehler, auf den drei Auftragskiller gewartet haben. Schnell zieht ein dunkelhäutiger, untersetzter Mann eine ab- gesägte Schrotflinte unter seinem Mantel hervor. Der erste Schuss trifft Malcolm X links in der Brust, es ist bereits der tödliche, bevor weitere Kugeln den Körper des 39-Jährigen durchlöchern. Die „Nation of Islam“hat Rache an einem Abtrünnigen genommen, an ihrem früheren Helden.
Was Malcolm X für Afroamerikaner bedeutet, begreift man vielleicht am besten, wenn man Robert Bullard in seinem Studierstübchen besucht, an der Clark University in Atlanta. Von der Wand blickt Malcolm X auf den Soziologieprofessor herunter. Vielleicht hat Bullard das Poster so zentral platziert, um sich im Stillen über das Staunen überraschter Besucher amüsieren zu können. Müsste nicht Martin Luther King sein Idol sein? Der Prediger gewaltlosen Widerstands? „Malcolm X hat mir meine Würde wiedergegeben“, sagt Bullard.
Wie differenziert viele den umstrittenen, komplizierten Mann wahrnehmen, hat Barack Obama in seiner Autobiografie „Dreams from My Father“geschildert. Manche von Malcolms Theorien hätten ihm nie gefallen, was aber nichts ändere an dessen Verdiens-
Nach Malcolm X, hier 1963, sind in den USA heute Schulen und Straßen benannt.
ten um schwarze Amerikaner. „Diese Bekräftigung, dass ich ein Mensch bin, dass ich etwas wert bin, ich denke, das war wichtig. Und ich glaube, Malcolm X hat das besser eingefangen als irgendwer sonst.“In Ferguson, wo tödliche Polizistenschüsse auf den Teenager Michael Brown eine Welle wochenlanger Proteste auslösten, war das Konterfei des Brillenträgers allgegenwärtig. Wann immer etwas in einem afroamerikanischen Viertel passiere, kreuzten im Nu 20 Streifenwagen auf, hatte Malcolm X die Realität einst skizziert. Diese Demonstration der Macht schüre nur Ressentiments unter Schwarzen: „Sie denken, sie leben in einem Polizeistaat, weshalb sie die Polizisten ihre Feindschaft spüren lassen.“
Malcolm Little, der den Familiennamen seiner versklavten Vorfahren später ablegen wird, ist gerade mal sechs, als sein Vater Earl unter die Räder einer Straßenbahn gerät und verblutet. Earls Ehefrau Louise ist davon überzeugt, dass es kein Unfall war, sondern die Tat weißer Rassisten. Aus Malcolm Little wird irgendwann ein Krimineller, er stiehlt, handelt mit Drogen. 1946 kommt er für sechs Jahre ins Gefängnis, wo er philosophische Werke zu lesen beginnt und zum Islam konvertiert. Wieder frei, nunmehr strenger Asket, wird er zur rechten Hand Elijah Muhammads, des Anführers der „Nation of Islam“, und macht aus der obskuren Sekte eine Massenorganisation mit 75 000 Mitgliedern. Als der Boxer Cassius Clay beitritt, nunmehr Muhammad Ali, steht er ihm als spiritueller Mentor zur Seite.
Schwarze Amerikaner, glaubt Malcolm X, können ihre Würde nur wiedererlangen, wenn sie sich kompromisslos von einer Gesellschaft trennen, die beherrscht wird von den „weißen Teufeln“. Mal klopft er antisemitische Sprüche, mal redet er abfällig über Frauen, er verhandelt sogar mit dem Ku Klux Klan, um Land zu erwerben, auf dem Afroamerikaner Siedlungen gründen können. Martin Luther King, dem er Feigheit vorwirft, vergleicht er mit dem unterwürfigen Uncle Tom. 1963, als John F. Kennedy erschossen wird, reagiert er mit Häme. Erst 1964, zurückgekehrt von einer Pilgerfahrt nach Mekka, lässt er tolerantere Ansichten erkennen, nähert sich der Bürgerrechtsbewegung an und bricht mit der „Nation of Islam“.
Es ist die Wende im letzten Lebensjahr, die das liberale Amerika bis heute über ihn rätseln lässt. Was, wenn er länger gelebt hätte? Was wäre wenn? Zu den Sympathisanten, die er posthum gewann, gehörte ein Präsident namens Bill Clinton. Der trug beim Joggen bisweilen eine Baseballkappe mit dem Buchstaben X.