Der Arzt der letzten Hoffnung
Wie ein Marburger Mediziner mysteriösen Krankheiten auf den Grund geht – Patienten aus ganz Deutschland
Menschen mit seltenen Erkrankungen haben oft lange Leidenswege hinter sich, bis sie endlich wissen, was ihnen fehlt. Ein Arzt in Marburg hat sich auf besonders knifflige Fälle spezialisiert.
Köln. Professor Jürgen Schäfer ist für viele Patienten die letzte Hoffnung. An der Uniklinik Marburg hat der Mediziner ein Zentrum für die Diagnostik von unerkannten Krankheiten aufgebaut, das im Herbst 2013 eröffnet wurde. Bei ihm suchen Menschen Rat und Hilfe, die jahrelange Odysseen mit unzähligen Arztbesuchen hinter sich haben und oft als Simulanten eingestuft werden. „Medizin ist manchmal wie ein Krimi“, sagt der Mann, der als deutscher „Dr. House“gilt.
Wobei der Vergleich hinkt. In der US-Fernsehserie, die bis Ende 2012 auf RTL gezeigt wurde, löst ein knurriger Arzt mysteriöse Krankheitsfälle. Schäfer weckt dagegen schon mit seiner sympathischen Persönlichkeit und seinem Zugehen auf die Patienten deren Vertrauen. Trotzdem setzt der Professor die beliebte Sendung vor seinen Studenten ein: Sie sollen lernen, sich nicht mit einfachen Erklärungen zufriedenzugeben, neugierig zu bleiben und bei der Diagnostik nicht aufzugeben.
Stefan ist zum Beispiel erst 43 Jahre alt, abgemagert, beinahe alle Zähne sind ihm ausgefallen, und er verträgt wegen seiner Magen-Darm-Probleme nur wenige Lebensmittel. Seine Krankheit gab den behandelnden Medizinern bislang Rätsel auf. Der Kardiologe Schäfer nimmt sich zunächst Zeit für ein ausführliches Patientengespräch. Für die zwei Stunden erhält er 30 Euro von der Krankenkasse. Ein niedergelassener Arzt könne sich dies nicht leisten, weiß Schäfer: Sein Wartezimmer würde dann vor Patienten überquellen.
Was in Marburg angeboten wird, ist nicht die Regel, auch wenn es inzwischen bundesweit eine Reihe von Fachzentren für seltene Krankheiten gibt. Denn die Symptome bespricht Schäfer in einem Team von 40 spe- zialisierten Fachärzten. „Das Lösen komplexer Fälle ist echte Teamarbeit“, sagt Schäfer, der einräumt: „Wir sind nicht besser als andere. Die Patienten wissen schlichtweg nicht, wohin sie sich wenden sollen.“
Im Fall des 43-jährigen Stefan entschließen sich die Marburger Spezialisten zu einer DNAAnalyse – und finden einen in Europa seltenen Wurm aus den Tropen, der aus Stefans Aquarium stammt und sich in seinem Körper eingenistet hat. Dass dies überhaupt möglich ist, war bislang unbekannt. Schäfer und seine Kollegen werden den Befund wissenschaftlich beschreiben, das wird ihren Kollegen weltweit helfen.
Behandlung, Wissenschaft und Lehre bilden so in der privat betriebenen Uniklinik eine Einheit. Schäfer gibt diesen ganzheitlichen Ansatz an die Studenten weiter. Er lebt das Ideal der Verbindung von Theorie und Praxis. Möglich ist dies nur, weil Drittmittel eingeworben wurden und die Forschungs- und Lehrarbeit von ei- Bals: Solche Initiativen gibt es an vielen Standorten im Land. Grundsätzlich ist es äußerst wichtig, sich mit seltenen Krankheiten zu beschäftigen, da diese zwar selten sind, aber zusammengerechnet schon eine erhebliche Anzahl von Personen betreffen. ner Stiftung unterstützt wird. Die Verbindung der hohen Fachkompetenz eines Uniklinikums mit der Praxis kommt vor allem den Patienten zu Gute.
Seit den ersten Berichten über das Zentrum in Marburg melden sich jeden Tag rund zehn Patienten aus ganz Deutschland mit ihren Leidensgeschichten. Die Sprechstunde von Schäfer kommt an den Rand ihrer Kapazität. Auch ihn selbst lässt die Arbeit selten los: „Viele Schicksale bereiten mir schlaflose Nächte.“Daher plädiert er für den Aufbau weiterer Zentren, in denen seltene Krankheitsbilder unter die Lupe genommen werden. Tatsächlich geschieht derzeit bundesweit eine Menge. Seit 2008 macht zudem alljährlich am 28. Februar der „Tag der seltenen Krankheiten“auf die Probleme aufmerksam.
Heute Abend um 22.30 Uhr sendet der WDR die Dokumentation „Der Arzt, der um die Ecke denkt“über Prof. Schäfer und vier seiner Patienten. Marburg hat also keine Sonderstellung? Bals: Aus meiner Sicht nicht. Bei den Zentren für seltene Krankheiten ist einer der Bausteine oft eine Sprechstunde für bislang undiagnostizierte Fälle. Das ist also nicht so ungewöhnlich. Prof. Schäfer hat früh erkannt, dass hier eine Versorgungslücke besteht.
Robert Bals Ist der Marburg-Hype in vielen Medien übertrieben? Haben Sie schon Patienten nach Marburg geschickt? Bals: Nein. Ich denke, dass die meisten Unikliniken diese Kompetenzen selbst haben, auch wenn die Strukturen manchmal nicht so klar dargestellt sind. Insgesamt ist aber der Austausch unter Spezialisten wichtig, weil es nicht an einem Standort die Kompetenz für alles gibt. Da haben wir keine Scheu, uns Rat zu holen oder
Wir gründen tatsächlich auch gerade ein Zentrum für seltene Erkrankungen. Das heißt, dass wir die Kompetenz, die wir in allen möglichen Bereichen bereits haben, systematisch zusammenfassen und klarer nach außen präsentieren. Dazu kommen neue Strukturen wie gemeinsame Fall-Konferenzen oder eben Sprechstunden speziell für Patienten mit bislang unentdeckten Krankheiten. Das alles ist gerade im Entstehen. Mitte des Jahres sollte das Zentrum eröffnet werden können.