Ein Hansdampf in allen Literaturgassen
Der Feuilletonist und Kritiker Fritz J. Raddatz ist gestorben
Ein literarischer Tausendsassa war er, provokativ, polemisch und einprägsam: Der langjährige „Zeit“-Feuilletonchef Fritz J. Raddatz ist gestern im Alter von 83 Jahren gestorben. Seine Artikel und Bücher lösten oft heftige Kontroversen aus.
Hamburg. „Zwischen Suhrkamp, Avenarius und Baedeker. Mehr kann man nicht verlangen“, notierte Fritz J. Raddatz in seinem Tagebuch über die Wahl seiner Grabstätte auf Sylt, die er sich schon weit vor seinem 70. Geburtstag gesichert hatte.
„Ich bin der Auffassung, dass Literatur immer über die Grenzen gehen muss und da, wo sie wichtig wurde, immer über die Grenzen gegangen ist, ob es Anstand betraf oder Moral oder politisches Denken.“So beschrieb der literarische Tausendsassa Fritz J. Raddatz, der am 3. September 1931 in Berlin als Sohn eines Ufa-Direktors geboren wurde, in einem Interview sein literarisches Credo, das seine Arbeit prägte – als Lektor bei Volk und Welt und Kindler, als stellvertretender Verlagsleiter beim Rowohlt-Verlag in Reinbek bei Hamburg, als Professor an der Uni Hannover und von 1977 bis 1985 als Feuilletonchef der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“.
Raddatz, der Hansdampf in allen Literaturgassen, hat streitbare Sachbücher über Karl Marx, Gottfried Benn und Heinrich Heine verfasst, das Tucholsky- Gesamtwerk herausgegeben, Filme über Ezra Pound, Louis Aragon und Erich Mühsam gedreht und sich als Romanautor versucht. Nicht selten führte ihm bissige Polemik die Feder. Unter dem 14. November 1986 notierte er in seinem Tagebuch: „Mindestens ebenso verständnislos stehe ich ja vor der ,Kulturwende’. Der Journalismus? Ein Meinungsragout breitet sich aus, mal süß, mal sauer angerichtet. Ragout bleibt Ragout.“Seine eigenen literarischen Arbeiten, die Romane „Kuhauge“, „Der Wolkentrinker“und „Die Abtreibung“, wurden von den Kollegen mit Skepsis aufgenommen. Hämische Untertöne waren auch in den Kommentaren nicht zu überhören, die 1985 nach seinem Ausscheiden als Feuilletonchef der „Zeit“erschienen. Raddatz war über ein manipuliertes Goethe-Zitat eines Kollegen gestolpert und danach auf den Posten des Kulturkorrespondenten abgeschoben worden.
Ein langjähriger Weggefährte, der „Zeit“-Redakteur KarlHeinz Janssen, bezeichnete Raddatz, der im Hamburger Vorort Harvestehude lebte, als „den anregendsten, neugierigsten, temperamentvollsten und eloquentesten“Feuilletonchef der Hamburger Wochenzeitung. Seine 2003 erschienene Autobiografie „Unruhestifter“funktionierte er kurzerhand zu einer Generalabrechnung mit allen ihm missliebigen Personen um.
Der Rotwein- und PorscheLiebhaber Raddatz, der für seinen Tucholsky-Film mit dem Adolf- Grimme-Preis ausgezeichnet wurde, hat mit seinen Essays, Kritiken und großen Interviews für die „Zeit“die Kulturlandschaft bereichert und immer wieder zu heftigen Kontroversen Anstoß gegeben. „Alles Leben hat seine Grenze“, hatte er im letzten Herbst erklärt und seinen Rückzug vom Journalismus verkündet. Gestern ist Fritz J. Raddatz im Alter von 83 Jahren gestorben. Morgen erscheint bei Rowohlt sein letztes Buch, „Jahre mit Ledig. Eine Erinnerung“, wie der Verlag mitteilt.