Europa will neue Mission im Mittelmeer
EU-Gipfel könnte am Donnerstag einen Militär-Einsatz nach dem Vorbild des Kampfes gegen die Piraten beschließen
ernsehkameras gibt es hier auf dem offenen Meer nicht. Auch keine Mikrofone, kein Blitzlicht. Nur eine große erschütternde Stille. Totenstille. Die See ist ruhig, hier, etwa 70 Seemeilen vor der libyschen Küste. Außer ein paar Öl-Schlieren von den Rettungsbooten ist am Tag nach der Tragödie nichts mehr zu sehen.
So hat es Vincenzo Bonomo einem italienischen Reporter erzählt. Bonomo, das heißt so viel wie guter Mann. Und wenn man so will, ist es gut, dass der Kapitän des sizilianischen Fischkutters „Francesco Padre“das Grauen mit eigenen Augen gesehen hat. Er hat Holzstücke im Wasser gesehen, Schwimmwesten, Schuhe, ein Heft und einen Rucksack. Und dann hat er noch den leblosen Jungen gesehen, vielleicht zehn Jahre alt, dessen Gesicht hinunter auf den Meeresgrund gerichtet war. Er wolle gar keinen Überlebenden mehr finden, das sei ohnehin aussichtslos, berichtet Bonomo erschüttert. Nur einen einzigen Körper und diesem eine würdige Bestattung möglich machen. „Dann könnte ich vielleicht ein bisschen besser schlafen.“
Wir schlafen alle ziemlich gut. Wir schlagen am Morgen die Zeitung auf oder schalten den Fernseher ein und dann beginnt dieses seltsame Spiel mit den Zahlen. Vor allem Journalisten geht es so: Drei Tote im Mittelmeer, viel-
FSeit Jahren diskutiert Europa über eine neue Flüchtlingspolitik. Nun erhöht das schwere Bootsunglück im Mittelmeer den Druck. Die EUStaaten scheinen zu einer neuen Seenotrettung bereit. Doch die Interessen sind ganz verschieden.
Luxemburg/Brüssel. Den Außenministern der EU blieb gestern nicht mal die Zeit, sich bis zum Tagesordnungspunkt „Flüchtlinge“vorzuarbeiten, da ging schon die nächste Katastrophenmeldung ein: Ein völlig überfülltes Schiff mit über 300 Menschen war am Mittag gekentert. Die italienische Marine eilte vor Ort. „Mit Rücksicht auf den Tod der Menschen im Mittelmeer können wir nicht zur Tagesordnung übergehen“, erklärte denn auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier vor dem Treffen in Luxemburg, zu dem neben den Außen- auch die Innenminister der Mitgliedstaaten angereist waren. „Europas Öffentlichkeit erwartet zu Recht, dass sich die Politik mit dieser Tragö- leicht eine Meldung? 70 Tote, ein kleineres Stück. Ab 300 handelt es sich um eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes. Aber selbst, wenn wie im Oktober vor zwei Jahren 366 Menschen vor der Insel Lampedusa ertrinken, der Papst die „Globalisierung der Gleichgültigkeit“anprangert, Europa dann ein paar Tage irritiert ist und verspricht, jetzt wirklich aktiv zu werden, geht alles doch bald wieder seinen gewohnten Weg.
Am Wochenende hieß es erst, 700 Menschen seien bei einem Schiffsunglück vor der Küste Libyens ertrunken. Dann behauptete einer der 28 Überlebenden es seien 950 Menschen auf dem Boot gewesen. 200 Frauen, bis zu 50 Kinder. Ein neuer trauriger Superlativ. Die Internationale Organisation für Migration meldet gestern drei weitere Flüchtlingsboote in Seenot. Das Massensterben vor unserer Haustüre ist alltäglich geworden. „Im Mittelmeer geschieht ein Völkermord“, hat Joseph Muscat, der Premierminister von Malta, in diesen Tagen gesagt. „Und wir alle sind in Gefahr, uns an ihn zu gewöhnen.“
Wir sind persönlich nicht verantwortlich dafür, dass Armut und Krieg in Afrika und im Nahen Osten herrschen. Auch nicht dafür, dass Schlepper Hunderte von Menschen auf klapprige Fischkutter pferchen und sie dafür auch noch bezahlen lassen. Dass im vergangenen Jahr 170 000 Menschen auf diese Weise über das Mittelmeer nach Italien und damit in die EU kamen und 3500 von ihnen starben. Dieses Jahr sind es schon 1600 Tote. Die Frage ist aber, wie sehr wir und die von uns gewählten Regierungen durch unsere Passivität zu Julius MüllerMeiningen die, mit der Fortsetzung dieser Tragödie befasst.“
Die Stellungnahmen klangen nach Entschlossenheit. „Zu oft haben wir gesagt: nie wieder!“, betonte die Chefin des Auswärtigen Dienstes der EU, Federica Mogherini. „Jetzt ist es an der Zeit, dass die Europäische Union als Ganzes diese Tragödien verhindert.“
Schon am Donnerstag werden deshalb die 28 Staats- und Regierungschefs zu einem Sondergipfel nach Brüssel kommen. „Das muss eine Begegnung sein, die Ergebnisse bringt“, forderte Bundesinnenminister Thomas de Maiziére. Auf dem Tisch liegt bereits ein Vorschlag der EU-Kommission, der zumindest in einem Punkt unumstritten ist: Die Seenotrettung Schiffbrüchiger wird ausgebaut. Eine Neuauflage der italienischen Operation „Mare Nostrum“– bis November durften Marine, Grenzschützer und Polizei bis an das libysche Hoheitsgebiet heranfahren, um bereits dort Menschen zu retten – dürfte es aber nicht ge- ben. Stattdessen soll jetzt nach den Worten des Bundesinnenministers geprüft werden, ob man nicht nach dem Vorbild der internationalen Aktion gegen Schiffspiraterie vor Somalia Einheiten zusammenzieht, die sehr frühzeitig Flüchtlingsschiffe aufbringt, Menschen rettet und dabei auch noch den Kampf gegen die Schlep- Komplizen des Massensterbens geworden sind. Wir fürchten uns vor der unkontrollierten Einwanderung und schaffen es trotzdem nicht, sie zu kontrollieren. Die Hürden, die wir gegen die Flüchtlinge errichten, sind so hoch, dass auch die Risiken zu ihrer Überwindung größer werden.
Die tragischen Folgen der Flucht über das Mittelmeer sind spätestens seit 20 Jahren bekannt. Über 20 000 Menschen sind nach Schätzungen in diesen Jahren ertrunken. 283 Flüchtlinge starben 1996 beim ersten größeren Unglück vor Sizilien – der Tragödie von Portopalo. Wenig später fanden Fischer die Leichname der Ertrunkenen in ihren Netzen. „Außer dem Fisch hatten wir plötzlich eine Leiche im Netz“, erzählte einer der Fischer. „Der Körper eines dunkelhäutigen Mannes zwischen 25 und 30 Jahren, seine Haut von den Fischen angenagt, am Finger trug er einen Ring.“Die Fischer warfen den Leichnam zurück ins Meer, aus Furcht vor Problemen mit den Behörden. Sechs Wochen lang fanden sie Leichen in ihren Netzen, und warfen sie wieder zurück.
Heute liegt ein junger, dunkelhäutiger Mann im Krankenhaus von Catania auf Sizilien. Er war am Sonntag gerettet worden, wegen einer Kopfverletzung mit dem Helikopter in das Krankenhaus geflogen worden. Der namenlose junge Mann, angeblich aus Bangladesch, berichtete davon, dass sich 950 Menschen auf dem untergegangenen Boot befunden per verschärfen kann. Parallel dazu hatte Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi vorgeschlagen, eine Seeblockade mit Schiffen unmittelbar vor der Küste Nordafrikas zu errichten, um riskante Überfahrten schon unmittelbar nach dem Ablegen zu verhindern. Dafür, so der römische Regierungschef, sei jedoch ein Mandat
Ein Matrose salutiert vor einem der toten Flüchtlinge, den Rettungskräfte gerade an Land bringen.
hätten. Eng aneinander gepresst an Deck des Kutters und eingeschlossen in den Bauch des Schiffes. Als sich der zur Hilfe gerufene portugiesische Frachter „King Jacob“näherte, sei der Kutter gekippt. Die meisten der Körper liegen nun in 400 Meter Tiefe. Eine Bergung wäre höchst aufwändig und nur mit Tauchrobotern möglich. Das erzählen die Mitglieder von Küstenwache und Marine, die am Einsatz beteiligt waren.
Der sizilianische Fischer Vito Margiotta war beim jüngsten Rettungsversuch dabei. Er war einer der ersten an der Unglücksstelle, wie er der Zeitung „La Repubblica“berichtete. „Ein Inferno, überall Teile. Wir fuhren sehr vorsichtig, um niemanden zu gefährden.“Leider seien alle Körper, die er im Meer erspäht habe, schon leblos gewesen. Die Gesichter nach unten gekehrt, die Körper bereits vom Wasser aufgebläht. „Uns sind die Tränen gekommen“, erzählt Margiotta. „Wir haben an diejenigen gedacht, die unten auf dem Grund liegen und für die alle Hilfe zu spät kam. Die Körper werden nie geborgen werden können.“
Was bleibt, sind die 24 Leichensäcke aus Plastik, die an Deck des Patrouillenschiffs „Bruno Gregoretti“der italienischen Küstenwache lagern. Männer in weißen Overalls, mit Atemschutzmasken und Schutzbrillen ausgestattet, tragen sie am Hafen von La Valetta auf Bahren von Bord. Zwei Matrosen mit Schirmmütze salutieren. Es ist der unwirkliche Epilog des jüngsten Dramas. der Vereinten Nationen nötig, weil es sich ansonsten um einen „kriegerischen Akt“handele.
Dass es nun offenbar doch zu einer konzertierten Aktion Europas kommen könnte, liegt nicht zuletzt an den Informationen, die der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR) noch einmal unterstrich. Demnach warten bis zu einer Million Menschen in den Lagern an den nordafrikanischen Küsten darauf, nach Europa fliehen zu können. Dennoch ist völlig unklar, ob sich die Staatsund Regierungschefs jetzt auf eine derart weitreichende Korrektur ihrer bisherigen Linie einigen können. Der tschechische Außenamtschef Lubomir Zaoralek lehnte es gestern bereits ab, die Seenotrettung zu intensivieren: „Wenn wir den Schleppern ihre Arbeit erleichtern und von Bord gegangene Flüchtlinge entgegennehmen, wird daraus für sie ein noch besseres Geschäft.“Auch diese Position wird bisher von vielen Ländern geteilt. dr Innenminister Thomas de Maizière sieht darin aber kein Allheilmittel. Und Kritiker sagen, die Operation würde noch mehr Flüchtlinge anlocken. Müller: Die Alternative wäre doch, die Menschen weiter ertrinken zu lassen. Sollte es an den sechs Millionen Euro scheitern, biete ich eine Vorfinanzierung aus deutschen Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit an. Müssen Deutschland dann auch Schiffe ins Mittelmeer entsendet werden? Müller: Ja. Es gibt ja auch schon zivile Angebote, es gibt eine deutsche Seenotrettungsgesellschaft. Darüber werden wir uns jetzt konkret unterhalten müssen.
von Was erwarten Sie noch von der EU? Müller: Notwendig ist, dass wir Italien, Griechenland und Malta bei der Aufnahme der Flüchtlinge viel stärker unterstützen. Wir brauchen ein EU- Gesamtkonzept zur Rettung, Aufnahme und Verteilung der Flüchtlinge. Daran müssen sich alle 28 Staaten beteiligen. Wenn es eine Gemeinschaftsaufgabe der Europäischen Union gibt, dann doch jetzt diese. Das kostet Geld. Müller: Richtig. Die EU muss ein zehn Milliarden Euro-Sofortprogramm auflegen. Mit dem Geld müssen wir dann auch in den Fluchtländern konkret handeln. Und zwar mit einem Wirtschaftsund Stabilisierungsprogramm. Besondere Aufmerksamkeit ist auf Libyen zu richten. Die EU muss einen Sondergesandten entsenden zur Unterstützung der UN-Initiative vor Ort. Dabei geht es um eine diplomatische Offensive zur Befriedung des Landes; um den Aufbau von staatlichen Strukturen, um Infrastrukturhilfen, Grenzsicherung und um die Bekämpfung der Schleuserbanden. Hilft das kurzfristig? Müller: Wenn das, was ich genannt habe, auch konkret umgesetzt wird, werden wir im Kampf gegen die Schleuserbanden klar vorankommen. Dafür müssen wir aber vor Ort mehr Präsenz zeigen. Was halten Sie von einem humanitären Flüchtlingsvisum, wie es derzeit debattiert wird? Müller: Ich bin zunächst für die Sofort-Maßnahmen, die ich vorschlage. Das ist bereits sehr weitgehend.