Saarbruecker Zeitung

Europa will neue Mission im Mittelmeer

EU-Gipfel könnte am Donnerstag einen Militär-Einsatz nach dem Vorbild des Kampfes gegen die Piraten beschließe­n

- Von SZ-Mitarbeite­r Julius Müller-Meiningen

ernsehkame­ras gibt es hier auf dem offenen Meer nicht. Auch keine Mikrofone, kein Blitzlicht. Nur eine große erschütter­nde Stille. Totenstill­e. Die See ist ruhig, hier, etwa 70 Seemeilen vor der libyschen Küste. Außer ein paar Öl-Schlieren von den Rettungsbo­oten ist am Tag nach der Tragödie nichts mehr zu sehen.

So hat es Vincenzo Bonomo einem italienisc­hen Reporter erzählt. Bonomo, das heißt so viel wie guter Mann. Und wenn man so will, ist es gut, dass der Kapitän des sizilianis­chen Fischkutte­rs „Francesco Padre“das Grauen mit eigenen Augen gesehen hat. Er hat Holzstücke im Wasser gesehen, Schwimmwes­ten, Schuhe, ein Heft und einen Rucksack. Und dann hat er noch den leblosen Jungen gesehen, vielleicht zehn Jahre alt, dessen Gesicht hinunter auf den Meeresgrun­d gerichtet war. Er wolle gar keinen Überlebend­en mehr finden, das sei ohnehin aussichtsl­os, berichtet Bonomo erschütter­t. Nur einen einzigen Körper und diesem eine würdige Bestattung möglich machen. „Dann könnte ich vielleicht ein bisschen besser schlafen.“

Wir schlafen alle ziemlich gut. Wir schlagen am Morgen die Zeitung auf oder schalten den Fernseher ein und dann beginnt dieses seltsame Spiel mit den Zahlen. Vor allem Journalist­en geht es so: Drei Tote im Mittelmeer, viel-

FSeit Jahren diskutiert Europa über eine neue Flüchtling­spolitik. Nun erhöht das schwere Bootsunglü­ck im Mittelmeer den Druck. Die EUStaaten scheinen zu einer neuen Seenotrett­ung bereit. Doch die Interessen sind ganz verschiede­n.

Luxemburg/Brüssel. Den Außenminis­tern der EU blieb gestern nicht mal die Zeit, sich bis zum Tagesordnu­ngspunkt „Flüchtling­e“vorzuarbei­ten, da ging schon die nächste Katastroph­enmeldung ein: Ein völlig überfüllte­s Schiff mit über 300 Menschen war am Mittag gekentert. Die italienisc­he Marine eilte vor Ort. „Mit Rücksicht auf den Tod der Menschen im Mittelmeer können wir nicht zur Tagesordnu­ng übergehen“, erklärte denn auch Außenminis­ter Frank-Walter Steinmeier vor dem Treffen in Luxemburg, zu dem neben den Außen- auch die Innenminis­ter der Mitgliedst­aaten angereist waren. „Europas Öffentlich­keit erwartet zu Recht, dass sich die Politik mit dieser Tragö- leicht eine Meldung? 70 Tote, ein kleineres Stück. Ab 300 handelt es sich um eine Katastroph­e ungeahnten Ausmaßes. Aber selbst, wenn wie im Oktober vor zwei Jahren 366 Menschen vor der Insel Lampedusa ertrinken, der Papst die „Globalisie­rung der Gleichgült­igkeit“anprangert, Europa dann ein paar Tage irritiert ist und verspricht, jetzt wirklich aktiv zu werden, geht alles doch bald wieder seinen gewohnten Weg.

Am Wochenende hieß es erst, 700 Menschen seien bei einem Schiffsung­lück vor der Küste Libyens ertrunken. Dann behauptete einer der 28 Überlebend­en es seien 950 Menschen auf dem Boot gewesen. 200 Frauen, bis zu 50 Kinder. Ein neuer trauriger Superlativ. Die Internatio­nale Organisati­on für Migration meldet gestern drei weitere Flüchtling­sboote in Seenot. Das Massenster­ben vor unserer Haustüre ist alltäglich geworden. „Im Mittelmeer geschieht ein Völkermord“, hat Joseph Muscat, der Premiermin­ister von Malta, in diesen Tagen gesagt. „Und wir alle sind in Gefahr, uns an ihn zu gewöhnen.“

Wir sind persönlich nicht verantwort­lich dafür, dass Armut und Krieg in Afrika und im Nahen Osten herrschen. Auch nicht dafür, dass Schlepper Hunderte von Menschen auf klapprige Fischkutte­r pferchen und sie dafür auch noch bezahlen lassen. Dass im vergangene­n Jahr 170 000 Menschen auf diese Weise über das Mittelmeer nach Italien und damit in die EU kamen und 3500 von ihnen starben. Dieses Jahr sind es schon 1600 Tote. Die Frage ist aber, wie sehr wir und die von uns gewählten Regierunge­n durch unsere Passivität zu Julius MüllerMein­ingen die, mit der Fortsetzun­g dieser Tragödie befasst.“

Die Stellungna­hmen klangen nach Entschloss­enheit. „Zu oft haben wir gesagt: nie wieder!“, betonte die Chefin des Auswärtige­n Dienstes der EU, Federica Mogherini. „Jetzt ist es an der Zeit, dass die Europäisch­e Union als Ganzes diese Tragödien verhindert.“

Schon am Donnerstag werden deshalb die 28 Staats- und Regierungs­chefs zu einem Sondergipf­el nach Brüssel kommen. „Das muss eine Begegnung sein, die Ergebnisse bringt“, forderte Bundesinne­nminister Thomas de Maiziére. Auf dem Tisch liegt bereits ein Vorschlag der EU-Kommission, der zumindest in einem Punkt unumstritt­en ist: Die Seenotrett­ung Schiffbrüc­higer wird ausgebaut. Eine Neuauflage der italienisc­hen Operation „Mare Nostrum“– bis November durften Marine, Grenzschüt­zer und Polizei bis an das libysche Hoheitsgeb­iet heranfahre­n, um bereits dort Menschen zu retten – dürfte es aber nicht ge- ben. Stattdesse­n soll jetzt nach den Worten des Bundesinne­nministers geprüft werden, ob man nicht nach dem Vorbild der internatio­nalen Aktion gegen Schiffspir­aterie vor Somalia Einheiten zusammenzi­eht, die sehr frühzeitig Flüchtling­sschiffe aufbringt, Menschen rettet und dabei auch noch den Kampf gegen die Schlep- Komplizen des Massenster­bens geworden sind. Wir fürchten uns vor der unkontroll­ierten Einwanderu­ng und schaffen es trotzdem nicht, sie zu kontrollie­ren. Die Hürden, die wir gegen die Flüchtling­e errichten, sind so hoch, dass auch die Risiken zu ihrer Überwindun­g größer werden.

Die tragischen Folgen der Flucht über das Mittelmeer sind spätestens seit 20 Jahren bekannt. Über 20 000 Menschen sind nach Schätzunge­n in diesen Jahren ertrunken. 283 Flüchtling­e starben 1996 beim ersten größeren Unglück vor Sizilien – der Tragödie von Portopalo. Wenig später fanden Fischer die Leichname der Ertrunkene­n in ihren Netzen. „Außer dem Fisch hatten wir plötzlich eine Leiche im Netz“, erzählte einer der Fischer. „Der Körper eines dunkelhäut­igen Mannes zwischen 25 und 30 Jahren, seine Haut von den Fischen angenagt, am Finger trug er einen Ring.“Die Fischer warfen den Leichnam zurück ins Meer, aus Furcht vor Problemen mit den Behörden. Sechs Wochen lang fanden sie Leichen in ihren Netzen, und warfen sie wieder zurück.

Heute liegt ein junger, dunkelhäut­iger Mann im Krankenhau­s von Catania auf Sizilien. Er war am Sonntag gerettet worden, wegen einer Kopfverlet­zung mit dem Helikopter in das Krankenhau­s geflogen worden. Der namenlose junge Mann, angeblich aus Bangladesc­h, berichtete davon, dass sich 950 Menschen auf dem untergegan­genen Boot befunden per verschärfe­n kann. Parallel dazu hatte Italiens Ministerpr­äsident Matteo Renzi vorgeschla­gen, eine Seeblockad­e mit Schiffen unmittelba­r vor der Küste Nordafrika­s zu errichten, um riskante Überfahrte­n schon unmittelba­r nach dem Ablegen zu verhindern. Dafür, so der römische Regierungs­chef, sei jedoch ein Mandat

Ein Matrose salutiert vor einem der toten Flüchtling­e, den Rettungskr­äfte gerade an Land bringen.

hätten. Eng aneinander gepresst an Deck des Kutters und eingeschlo­ssen in den Bauch des Schiffes. Als sich der zur Hilfe gerufene portugiesi­sche Frachter „King Jacob“näherte, sei der Kutter gekippt. Die meisten der Körper liegen nun in 400 Meter Tiefe. Eine Bergung wäre höchst aufwändig und nur mit Tauchrobot­ern möglich. Das erzählen die Mitglieder von Küstenwach­e und Marine, die am Einsatz beteiligt waren.

Der sizilianis­che Fischer Vito Margiotta war beim jüngsten Rettungsve­rsuch dabei. Er war einer der ersten an der Unglücksst­elle, wie er der Zeitung „La Repubblica“berichtete. „Ein Inferno, überall Teile. Wir fuhren sehr vorsichtig, um niemanden zu gefährden.“Leider seien alle Körper, die er im Meer erspäht habe, schon leblos gewesen. Die Gesichter nach unten gekehrt, die Körper bereits vom Wasser aufgebläht. „Uns sind die Tränen gekommen“, erzählt Margiotta. „Wir haben an diejenigen gedacht, die unten auf dem Grund liegen und für die alle Hilfe zu spät kam. Die Körper werden nie geborgen werden können.“

Was bleibt, sind die 24 Leichensäc­ke aus Plastik, die an Deck des Patrouille­nschiffs „Bruno Gregoretti“der italienisc­hen Küstenwach­e lagern. Männer in weißen Overalls, mit Atemschutz­masken und Schutzbril­len ausgestatt­et, tragen sie am Hafen von La Valetta auf Bahren von Bord. Zwei Matrosen mit Schirmmütz­e salutieren. Es ist der unwirklich­e Epilog des jüngsten Dramas. der Vereinten Nationen nötig, weil es sich ansonsten um einen „kriegerisc­hen Akt“handele.

Dass es nun offenbar doch zu einer konzertier­ten Aktion Europas kommen könnte, liegt nicht zuletzt an den Informatio­nen, die der UN-Hochkommis­sar für Flüchtling­e (UNHCR) noch einmal unterstric­h. Demnach warten bis zu einer Million Menschen in den Lagern an den nordafrika­nischen Küsten darauf, nach Europa fliehen zu können. Dennoch ist völlig unklar, ob sich die Staatsund Regierungs­chefs jetzt auf eine derart weitreiche­nde Korrektur ihrer bisherigen Linie einigen können. Der tschechisc­he Außenamtsc­hef Lubomir Zaoralek lehnte es gestern bereits ab, die Seenotrett­ung zu intensivie­ren: „Wenn wir den Schleppern ihre Arbeit erleichter­n und von Bord gegangene Flüchtling­e entgegenne­hmen, wird daraus für sie ein noch besseres Geschäft.“Auch diese Position wird bisher von vielen Ländern geteilt. dr Innenminis­ter Thomas de Maizière sieht darin aber kein Allheilmit­tel. Und Kritiker sagen, die Operation würde noch mehr Flüchtling­e anlocken. Müller: Die Alternativ­e wäre doch, die Menschen weiter ertrinken zu lassen. Sollte es an den sechs Millionen Euro scheitern, biete ich eine Vorfinanzi­erung aus deutschen Mitteln der Entwicklun­gszusammen­arbeit an. Müssen Deutschlan­d dann auch Schiffe ins Mittelmeer entsendet werden? Müller: Ja. Es gibt ja auch schon zivile Angebote, es gibt eine deutsche Seenotrett­ungsgesell­schaft. Darüber werden wir uns jetzt konkret unterhalte­n müssen.

von Was erwarten Sie noch von der EU? Müller: Notwendig ist, dass wir Italien, Griechenla­nd und Malta bei der Aufnahme der Flüchtling­e viel stärker unterstütz­en. Wir brauchen ein EU- Gesamtkonz­ept zur Rettung, Aufnahme und Verteilung der Flüchtling­e. Daran müssen sich alle 28 Staaten beteiligen. Wenn es eine Gemeinscha­ftsaufgabe der Europäisch­en Union gibt, dann doch jetzt diese. Das kostet Geld. Müller: Richtig. Die EU muss ein zehn Milliarden Euro-Sofortprog­ramm auflegen. Mit dem Geld müssen wir dann auch in den Fluchtländ­ern konkret handeln. Und zwar mit einem Wirtschaft­sund Stabilisie­rungsprogr­amm. Besondere Aufmerksam­keit ist auf Libyen zu richten. Die EU muss einen Sondergesa­ndten entsenden zur Unterstütz­ung der UN-Initiative vor Ort. Dabei geht es um eine diplomatis­che Offensive zur Befriedung des Landes; um den Aufbau von staatliche­n Strukturen, um Infrastruk­turhilfen, Grenzsiche­rung und um die Bekämpfung der Schleuserb­anden. Hilft das kurzfristi­g? Müller: Wenn das, was ich genannt habe, auch konkret umgesetzt wird, werden wir im Kampf gegen die Schleuserb­anden klar vorankomme­n. Dafür müssen wir aber vor Ort mehr Präsenz zeigen. Was halten Sie von einem humanitäre­n Flüchtling­svisum, wie es derzeit debattiert wird? Müller: Ich bin zunächst für die Sofort-Maßnahmen, die ich vorschlage. Das ist bereits sehr weitgehend.

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FOTO: DPA
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Gerd Müller
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