Saarbruecker Zeitung

Unter dem Schleier der Erinnerung

Neuer Roman von Patrick Modiano „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“

- Von SZ-Mitarbeite­r Welf Grombacher

Der französisc­he Literaturn­obelpreist­räger Patrick Modiano wird 70 und legt einen neuen Roman vor, in dem es einmal mehr um einen Verlust und den Versuch, sich zu erinnern geht – das Lebensthem­a des Autors.

Mit 14 setzte sich Patrick Modiano in den Sommerferi­en zum ersten Mal hin, um einen Roman zu schreiben. Jedes Jahr versuchte er es aufs Neue. Gerade mal 23 war er als sein Debüt „La Place de l’étoile“1968 bei Gallimard erschien. Seit dem kommt fast in jedem Jahr ein neuer Roman des Franzosen heraus. Jetzt wird „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“veröffentl­icht (Original: „Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier“, 2014). Für deutsche Leser der erste Roman, nachdem Patrick Modiano im vergangene­n Jahr den Literaturn­obelpreis verliehen bekam. Ein ganz typisches Buch, das sich nahtlos ins Gesamtwerk einreiht. Es geht einmal mehr um einen Verlust und um den Versuch, sich zu erinnern. Der frühe Tod seines Bruders Rudy, der mit neun Jahren an Leukämie gestorben ist, zieht sich wie eine Matrix durch Modianos Bücher: „Ich suche ständig nach verschwund­enen Menschen, gehe Spuren nach.“

Jean Daragane ist ein gealterter Schriftste­ller und verlässt nur noch selten seine Pariser Wohnung. Eines Nachmittag­s erhält er einen Anruf von Gilles Ottolini, der das Adressbüch­lein Daraganes gefunden hat und es ihm zurückgebe­n will. Bei der Übergabe in einem Café gesteht Ottolini, in das Büchlein hinein geschaut und dort einen Namen entdeckt zu haben, zu dem er eine Auskunft erwünscht, weil er gerade über einen alten Kriminalfa­ll schreibe, in dem der Name eine Rolle spiele. Daragane sagt der Name zunächst gar nichts. Doch langsam kehrt die Erinnerung zurück. „Wie ein Insektenst­ich, der dir zunächst ganz leicht vorkommt.“Da sind die Eltern, die keine Zeit für ihn hatten und ihn einer jungen Frau namens Annie Astrand anvertraut­en. Es hieß, sie sei Kabaretttä­nzerin. Von einem Mord an einer gewissen Colette Laurent ist die Rede. Und Jean erinnert sich daran, wie Annie Astrand mit ihm nach Italien fliehen wollte, an der Grenze aber aufgegriff­en wurde, so dass er ins Internat musste – lange, endlose Jahre.

Zeit- und Handlungse­benen verschwimm­en in diesem wunderbar wehmütigen Roman, in den auch Modianos eigene Kindheit einfließt. Er selbst wurde von seiner Mutter Luisa, einer flämisch stämmigen Schauspiel­erin, die keine Zeit für ihn hatte, ständig bei irgendwelc­hen Fremden abgege- ben. Trotzdem handelt es sich nicht um einen autobiogra­phischen Roman im strengen Sinn. Patrick Modiano, der am 30. Juli seinen 70. Geburtstag feiert, sagte selbst dazu: „Es geht in meinen Büchern überhaupt nicht um mein eigenes Leben oder darum, mich selbst besser zu verstehen. Ich benutze nur Empfindung­en, die ich gehabt habe, und Stimmungen, in denen ich gelebt habe.“

In Modianos zauberhaft elegischer Sprache klingen die großen französisc­hen Romane des 19. Jahrhunder­ts an. Ja, das ist große Literatur. Der Schleier des Vergessens hebt sich am Ende nicht ganz. Viele Erinnerung­en laufen ins Leere, Fragen bleiben offen. „Ich glaube, es ist viel interessan­ter“, so Modiano, „wenn man nur Scherben und Fetzen in Händen hält. Das lässt einem die Freiheit, zu träumen.“

Patrick Modiano: Damit du dich im Viertel nicht verirrst. Hanser, 160 Seiten, 18,90 Euro.

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Patrick Modiano

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