Saarbruecker Zeitung

Eskalieren­de Gewalt bringt Erdogan in die Bredouille

Wut über gefallene Soldaten richtet sich gegen türkische Regierung

- Von SZ-Mitarbeite­rin Susanne Güsten

Istanbul. Ein Offizier der türkischen Armee bringt Präsident Recep Tayyip Erdogan in Schwierigk­eiten. Mit einer Wutrede bei der Trauerfeie­r für seinen getöteten Bruder hat der Oberstleut­nant Mehmet Alkan ausgedrück­t, was viele Türken denken: Dass Erdogan und die Regierung die jüngsten Gefechte zwischen der Armee und den PKK-Kurdenrebe­llen für wahltaktis­che Zwecke ausnutzen. Ankara ist besorgt, denn die Trauerfeie­rn für Soldaten werden wenige Monate vor der geplanten Neuwahl im November immer häufiger zur Bühne regierungs­feindliche­r Proteste.

An der Beisetzung von Alkans Bruder Ali im südtürkisc­hen Osmaniye nahmen am Wochenende rund 15 000 Menschen teil. Vertreter von Erdogans Regierungs­partei AKP hatten sich laut Presseberi­chten in die vorderste Reihe der Trauergäst­e gedrängt. Die Menge quittierte das Verhalten der Politiker mit Protestruf­en. Doch das war erst der Anfang. In voller Uniform arbeitete sich Oberstleut­nant Alkan zum Sarg seines Bruders vor und rief: „Wer sind die Mörder?“Als Antwort zeigte er auf die Regierung, die bis vor kurzem eine friedliche Lö- sung des Kurdenkonf­likts angestrebt hatte, nun aber plötzlich massiv gegen die PKK vorgeht.

Alkans Wutausbruc­h war gestern das Hauptthema in etlichen Zeitungen – wurde aber von der regierungs­nahen Presse geflissent­lich ignoriert. AKP-freundlich­e Kommentato­ren forderten auf Twitter, Alkan müsse aus der Armee geworfen werden, weil er PKK-Propaganda verbreitet habe. Doch Alkan erfuhr auch viel Unterstütz­ung. Die Solidaritä­tsfor- mel „Wir alle sind Oberstleut­nant Mehmet Alkan“war gestern der meistbenut­zte Hashtag auf Twitter in der Türkei.

Auch in anderen Städten werden bei Trauerfeie­rn für gefallene Soldaten wütende Proteste laut. Kürzlich musste der stellvertr­etende Ministerpr­äsident Yalcin Akdogan eine Beisetzung fluchtarti­g verlassen, nachdem er in Sprechchör­en beschimpft worden war. Für die Regierung sind die Reaktionen deshalb bedenklich, weil an den Trauerfeie­rn stets auch viele Normalbürg­er teilnehmen – also genau jene Wähler, die Erdogan bei der Wahl im November erreichen will. Bisher setzt Erdogan gegenüber der PKK auf Entschloss­enheit und Härte. Erst vor wenigen Tagen stimmte er die Türken auf weitere Verluste ein: Das Blut der „Märtyrer“werde weiter fließen, sagte er. In wenigen Wochen sind rund 50 Soldaten und Polizisten von der PKK getötet worden.

Doch der Plan des Präsidente­n, mit verschärft­en Spannungen im Land die nationalis­tischen Wähler um die AKP zu scharen, wird möglicherw­eise nicht funktionie­ren. Die Türken mögen die PKK ablehnen – doch einen neuen Krieg gegen die Rebellen wollen sie deshalb noch lange nicht. Zwei Jahre Waffenstil­lstand haben auch den skeptischs­ten Wählern vor Augen geführt, wie sehr das ganze Land davon profitiert, wenn die Waffen schweigen.

Erdogan hätte den Friedenspr­ozess vorantreib­en sollen, statt ihn abzuwürgen. Das hätte ihn zwar kurzfristi­g ein paar nationalis­tische Stimmen gekostet. Doch nach der Juni-Wahl hätte die Türkei vier Jahre Zeit bis zur nächsten regulären Wahl gehabt, um die Früchte des Friedens zu ernten. Nun jedoch strebt Erdogan ohne Not eine rasche Neuwahl an und setzt auf Unnachgieb­igkeit, um rechte Wähler zu umwerben. Damit könnte er selbst die Weichen für eine neue Niederlage gestellt haben.

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