Saarbruecker Zeitung

Das glückliche Blatt und die Freiheit

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och an einem der oberen Zweige der alten Buche wohnte ein Blatt. Es war ein schönes Blatt mit einer feinen Struktur und einem saftigen, tief dunklen Grün. Zwei kleine, goldgelbe Tupfer, die fröhlichen Blattaugen ähnelten, schmückten seinen Rücken. Pfiffig sah das aus und ein bisschen unterschie­d es das Blatt von seinen Blätterkol­legen am Baum. Das erfüllte das Blatt mit einem leisen Stolz und es war sehr zufrieden mit seinem Leben. Jeden Tag summte das kleine Blatt fröhlich vor sich hin und genoss den Sonnenaufg­ang.

„Ich bin ein Glücksblat­t“, sagte es eines Tages, als es seine Blicke über das Land schweifen ließ. „Von hier oben kann ich die ganze Welt sehen, den Himmel, die Sonne, den Mond und die Sterne. Was will man mehr vom Leben?“

„Aber du bist nicht frei“, warf die Wildtaube, die in der Baumkrone ihr Nest hatte, ein. „Dein Baum hält dich fest.“„Er gibt mir Halt und ein Zuhause. Ein gutes Zuhause. Selbst in stürmische­n Zeiten“, erwi- derte das Blatt. „Sag! Wer hat schon so viel Glück wie ich?“

„Na ja. Das ist Ansichtssa­che.“Die Taube plusterte ihr Gefieder auf und schwang sich in die Luft. „In der Freiheit liegt das Glück allein“, rief sie dem Blatt zu und flog davon.

Lange sah das Blatt der Taube hinterher. „Seltsam! Ich bin doch frei.“Das Blatt sah zu den Bergkämmen hinüber, blinzelte den Wolken zu, ließ sich von der Sonne wärmen und war zufrieden.

„Was ist Freiheit?“, fragte es in den Folgetagen die Vögel, Schmetterl­inge, Bienen, Fliegen, Käfer und Eichhörnch­en, die zu Besuch vorbeikame­n.

„Das Leben“, antwortete­n sie, und ein Eichhörnch­en fügte hinzu: „Das Leben, das jeder so zu führen vermag, wie es seiner Art entspricht, macht frei.“„Und glücklich?“, fragte das kleine Blatt, dem diese Antwort sehr gut gefiel, schnell. „Wer sich frei fühlt, ist auch glücklich“, antwortete das flinke Eichhörnch­en.

Das Blatt war zufrieden. Es war glücklich. Und es war frei. elb

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