Merkel ruft zu Mitgefühl mit Flüchtlingen auf
Kanzlerin verurteilt Gewalt und Hetze und verlangt „deutsche Flexibilität“
Meldungen über brennende Asylbewerberheime und Hetze gegen Flüchtlinge wühlen die Republik auf. Die Kanzlerin sendet dazu jetzt klare Botschaften an die Bürger.
Berlin/Saarbrücken. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat eindringlich zu Mitgefühl und Menschlichkeit gegenüber den Flüchtlingen in Deutschland aufgerufen und in deutlichen Worten Gewalt und Hetze verurteilt. „Folgen Sie denen nicht, die zu solchen Demonstrationen aufrufen“, sagte Merkel gestern in Berlin. „Zu oft sind Vorurteile, zu oft ist Kälte, ja sogar Hass in deren Herzen. Halten Sie Abstand!“
Der Bund erwartet in diesem Jahr bis zu 800 000 Asylbewerber – vier Mal so viel wie 2014. Flüchtlingsheime sind überfüllt, Behörden überlastet. Auch die gesellschaftlichen Spannungen nehmen zu: Die Zahl der rechten Proteste und Angriffe auf Asylbewerberheime ist im laufenden Jahr sprunghaft gestiegen. Merkel sagte, sie sei besorgt, „dass wir solchen Hass und solche Stimmung in unserem Land haben“.
Es dürfe nicht die Spur von Verständnis gezeigt werden: „Nichts, aber auch gar nichts rechtfertigt ein solches Vorgehen“, betonte sie. Angesichts der wachsenden Flüchtlingszahlen hält die Regierungschefin auch ein Umdenken von Staat und Behörden für nötig. Deutsche Gründlichkeit sei zwar „super“, aber „es wird jetzt deutsche Flexibilität gebraucht“. Die nötigen Anstrengungen zur Versorgung und Integration von Asylsuchenden verglich sie mit der Herausforderung der Wiedervereinigung. „Deutschland ist ein starkes Land“, sagte die Kanzlerin: „Wir haben so vieles geschafft, wir schaffen das.“
Dafür müsse der Staat Mut zeigen und auch bestimmte Vorgaben vorübergehend außer Kraft setzen. Unter anderem sollten Vorschriften zum Brandschutz gelockert werden, um die Einrichtung von Flüchtlingsunterkünften zu vereinfachen. Bis zum 24. September, versprach Merkel, soll ein umfassendes Maßnahmenpaket vorliegen, um die „nationale Herausforderung“meistern zu können.
Die Vize-Landeschefin der SPD, Anke Rehlinger, forderte gestern mehr Unterstützung vom Bund. Wenn der Eindruck entstehe, dass die Kommunen ihre Finanzen für die Flüchtlingsunterbringung nutzen müssen und dringende Sanierungen in Kitas und Schulen unterbleiben, seien „soziale Spannungen vorprogrammiert“.
Wie geht es in Deutschland weiter mit den Flüchtlingen? Sowohl CDU als auch SPD präsentierten gestern ihre Konzepte. In der Sache ist man auf einer Linie.
Berlin. Der Umgang mit den Flüchtlingen ist zum alles beherrschenden Thema der Bundespolitik geworden. Fast zeitgleich, aber getrennt präsentierten Kanzlerin Angela Merkel für die CDU und die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer für die SPD gestern in Berlin ihre Konzepte. Am kommenden Sonntag soll bei einem Koalitionsgipfel entschieden werden. Man profiliert sich zwar getrennt, ist sich in der Sache aber weitgehend einig.
Merkel hatte am Sonntagabend die Spitzen der Union ins Kanzleramt gerufen, um die Linie von CDU und CSU festzulegen. Bei ih- rer jährlichen Sommerpressekonferenz nannte sie gestern erste Details. Demnach will die Union eine Art Bürokratieabbaugesetz vorlegen, mit dem Standards für die Dauer des Flüchtlingsansturms gesenkt werden können. Als Beispiel nannte die Kanzlerin die Nutzung von Kasernen. Es sei besser, Flüchtlinge dort unterzubringen, statt in Zelten, selbst wenn nicht alle Bestimmungen „für den Brandschutz, die Geländerhöhe oder die Wärmedämmung“perfekt eingehalten würden. Deutsche Gründlichkeit sei gut, „aber jetzt wird deutsche Flexibilität gebraucht“, sagte Merkel.
Zu den Maßnahmen soll weiter gehören, dass die Asylverfahren beschleunigt werden. Zurzeit dauern sie fast ein halbes Jahr. Jene Flüchtlinge, die keinen Asylgrund hätten, vor allem vom Balkan, müssten schnell zurück- geführt werden, sagte die Kanzlerin. Der Bund soll den Ländern und Gemeinden auch finanziell bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise helfen. Merkel sprach von einer „nationalen Kraftanstrengung“; sie sagte, die Kosten bewegten sich „sicher nicht nur im einstelligen Milliardenbereich“. Damit toppte die Kanzlerin noch die Schätzung von SPD-Chef Sigmar Gabriel, der zuletzt von fünf Milliarden Euro gesprochen hatte.
Die SPD hatte bereits am Wochenende ein Papier durchsickern lassen. Gestern wurde ein entsprechender Beschluss im SPD-Parteivorstand gefasst, den Dreyer vorstellte. Beide Koalitionspartner liegen sehr nah beieinander, allerdings sind die SPDVorschläge schon etwas konkreter. Demnach soll der Bund die Hälfte der in diesem Jahr zusätzlich benötigten 100 000 Erstauf- nahmeplätze schaffen. Für die finanzielle Entlastung der Kommunen nannte die SPD drei mögliche Wege: Entweder dass der Bund sich pauschal an den Kosten je Flüchtling beteilige, die Lasten nach einem Jahr Aufenthalt übernehme oder sie bis zum Abschluss des Asylverfahrens trage. Darüber solle beim Gipfel der Bundesregierung mit den Ländern am 24. September entschieden werden, heißt es in dem Papier. In jedem Fall seien drei Milliarden Euro allein hierfür notwendig – bisher hatte der Bund den Kommunen nur eine Milliarde mehr zugestehen wollen.
Zusätzliche Bundesmittel sollen nach Vorstellung der Sozialdemokraten auch für den Wohnungsbau und die Einführung einer Gesundheitskarte für Flüchtlinge fließen. Für den Freiwilligendienst des Bundes werden 5000 zusätzliche Stellen gefordert. Auch die SPD will härter gegen Antragsteller vom Balkan vorgehen. Ihr Aufenthaltsstatus solle schon in den Erstaufnahmeeinrichtungen schnell geklärt werden. Danach sei „für eine rasche Rückkehr in das Heimatland zu sorgen“. Die Partei sprach sich zudem für die Einstufung aller Staaten des westlichen Balkan als sichere Herkunftsländer aus. Dies könne das Signal senden, „dass wirtschaftliche Motive kein Anerkennungsgrund im Asyl- recht darstellen“. Die SPD will den Menschen vom Balkan allerdings einen speziellen legalen Zugang zum Arbeitsmarkt eröffnen – wenn sie einen Arbeitsvertrag vorweisen können. Das lehnte die Union bisher ab. Merkel deutete gestern jedoch an, dass sie hier kompromissbereit ist.