100 Verletzte bei Anschlag vor Parlament der Ukraine
In der Ukraine wollen radikale Ultranationalisten den Friedensprozess sprengen
Kiew. Bei gewaltsamen Protesten gegen eine Verfassungsreform haben ukrainische Nationalisten in Kiew einen Sprengsatz gezündet und mehr als 100 Menschen verletzt. Ein Angehöriger der Nationalgarde sei von einem Splitter ins Herz getroffen worden und gestorben, sagte gestern Innenminister Arsen Awakow. Hunderte Menschen protestierten vor dem Parlament gegen die Verfassungsreform. Diese öffnet den prorussischen Separatisten im Donbass das Tor zu mehr Autonomie.
Auch auf Druck des Westens soll die vom Krieg im Donbass gebeutelte Ukraine eine neue Verfassung erhalten. Doch Gegner einer solchen Reform gibt es viele. Bei Protesten radikaler Ultranationalisten kam es nun zu neuer blutiger Gewalt in der Hauptstadt Kiew.
Kiew/Moskau. Ein neues Blutvergießen im Zentrum der Hauptstadt Kiew erschüttert die krisengeschüttelte Ukraine. Es sind die schlimmsten Gewaltexzesse seit den prowestlichen Protesten auf dem Maidan in Kiew im vorigen Jahr. Es sind radikale Ultranationalisten, die gegen eine Reform der Verfassung des in die Nato und in die EU strebenden Landes sind. Der Tag begann früh mit Tumulten von Abgeordneten im Parlament gegen die geplante Änderung des Grundgesetzes. Die Reform soll den Weg freimachen für mehr Autonomie in den abtrünnigen Gebieten Donezk und Luhansk – den möglichen Weg zu Frieden im Kriegsgebiet Donbass.
Ultranationalisten werfen nach der Sitzung vor der Obersten Rada einen Sprengsatz. Von einer Granate sprechen Ermittler und einem „Akt des Terrors“. Auch von Schüssen ist die Rede. Mehr als 100 Menschen, vor allem Angehörige der Nationalgarde, werden verletzt. Ein 25-Jähriger stirbt. Es ist der Tag, von dem Präsident Petro Poroschenko wusste, dass er hart werden würde. Zum ersten Mal organisierten Extremisten von Swoboda, der Radikalen Partei, und vom Rechten Sektor einen solch scharfen Protest.
Sonderrechte für Donbass
Bei der chaotischen Sitzung in der Obersten Rada wird am Morgen schnell klar, dass es alles andere als Einigkeit über das Grundgesetz gibt. Es ist vor allem ein Satz in dem Entwurf, der für Zündstoff sorgt, weil er den abtrünnigen Gebieten Luhansk und Donezk über den Umweg eines eigenen Gesetzes einen Sonderstatus zuerken- nen soll. Sonderrechte für den Donbass – so sieht es auch der im Februar in der weißrussischen Hauptstadt Minsk vereinbarte Friedensplan für das Kriegsgebiet vor. Zwar wiederholt Staatschef Poroschenko bei jeder Gelegenheit, dass die neue Verfassung keineswegs – wie von vielen befürchtet – dem Konfliktgebiet einen Sonderstatus garantiere. Es gehe auch nicht um die von Russland befürwortete Föderalisierung des Landes. Doch die Gegner des Entwurfs sehen das anders. Sie sehen mit der Novelle Tür und Tor geöffnet für weitgehende Autonomierechte – gemeint sind etwa eigene Gerichte und Sicherheitsorgane.
Die Radikale Partei des Rechtspopulisten Oleg Ljaschko warnt vor der Gefahr, dass andere Regionen dem Donbass-Beispiel folgen könnten. Das Ergebnis wäre ein von vielen befürchtetes Auseinanderbrechen der Ukraine. Die Radikalen werfen Poroschenko zudem vor, mit der Verfassungsreform direkt Kremlchef Wladimir Putin in die Hände zu spielen. Der Rechte Sektor, der eine militärische Lösung des Konflikts im Donbass fordert, wittert „Verrat“.
Dass Ängste vor einem Zerfall der Ex-Sowjetrepublik nicht aus der Luft gegriffen sind, zeigen die jüngsten Forderungen aus dem Gebiet Saporischschja, wo Abgeordnete ebenfalls einen Sonderstatus mit mehr Selbstverwaltungsrechten fordern. Gegner der neuen Verfassung meinen, dass künftig Dutzende kleine Autonomiegebiete entstehen könnten.
Forderung nach Dialog
Zwar hatten auch die Separatisten im Donbass und Russland die Verfassungsreform als unzureichend abgelehnt. Sie forderten für eine solche Novelle des Grundgesetzes zudem einen direkten Dialog mit Kiew. Aber die neuen Gewaltexzesse in Kiew dürften einmal mehr auch ihren Vorwürfen Auftrieb geben, dass die vom Westen unterstützte Regierung die Lage im Land nicht unter Kontrolle habe und den blutigen Konflikt nicht beenden könne.