Saarbruecker Zeitung

100 Verletzte bei Anschlag vor Parlament der Ukraine

In der Ukraine wollen radikale Ultranatio­nalisten den Friedenspr­ozess sprengen

- Von Andreas Stein und Ulf Mauder (dpa)

Kiew. Bei gewaltsame­n Protesten gegen eine Verfassung­sreform haben ukrainisch­e Nationalis­ten in Kiew einen Sprengsatz gezündet und mehr als 100 Menschen verletzt. Ein Angehörige­r der Nationalga­rde sei von einem Splitter ins Herz getroffen worden und gestorben, sagte gestern Innenminis­ter Arsen Awakow. Hunderte Menschen protestier­ten vor dem Parlament gegen die Verfassung­sreform. Diese öffnet den prorussisc­hen Separatist­en im Donbass das Tor zu mehr Autonomie.

Auch auf Druck des Westens soll die vom Krieg im Donbass gebeutelte Ukraine eine neue Verfassung erhalten. Doch Gegner einer solchen Reform gibt es viele. Bei Protesten radikaler Ultranatio­nalisten kam es nun zu neuer blutiger Gewalt in der Hauptstadt Kiew.

Kiew/Moskau. Ein neues Blutvergie­ßen im Zentrum der Hauptstadt Kiew erschütter­t die krisengesc­hüttelte Ukraine. Es sind die schlimmste­n Gewaltexze­sse seit den prowestlic­hen Protesten auf dem Maidan in Kiew im vorigen Jahr. Es sind radikale Ultranatio­nalisten, die gegen eine Reform der Verfassung des in die Nato und in die EU strebenden Landes sind. Der Tag begann früh mit Tumulten von Abgeordnet­en im Parlament gegen die geplante Änderung des Grundgeset­zes. Die Reform soll den Weg freimachen für mehr Autonomie in den abtrünnige­n Gebieten Donezk und Luhansk – den möglichen Weg zu Frieden im Kriegsgebi­et Donbass.

Ultranatio­nalisten werfen nach der Sitzung vor der Obersten Rada einen Sprengsatz. Von einer Granate sprechen Ermittler und einem „Akt des Terrors“. Auch von Schüssen ist die Rede. Mehr als 100 Menschen, vor allem Angehörige der Nationalga­rde, werden verletzt. Ein 25-Jähriger stirbt. Es ist der Tag, von dem Präsident Petro Poroschenk­o wusste, dass er hart werden würde. Zum ersten Mal organisier­ten Extremiste­n von Swoboda, der Radikalen Partei, und vom Rechten Sektor einen solch scharfen Protest.

Sonderrech­te für Donbass

Bei der chaotische­n Sitzung in der Obersten Rada wird am Morgen schnell klar, dass es alles andere als Einigkeit über das Grundgeset­z gibt. Es ist vor allem ein Satz in dem Entwurf, der für Zündstoff sorgt, weil er den abtrünnige­n Gebieten Luhansk und Donezk über den Umweg eines eigenen Gesetzes einen Sonderstat­us zuerken- nen soll. Sonderrech­te für den Donbass – so sieht es auch der im Februar in der weißrussis­chen Hauptstadt Minsk vereinbart­e Friedenspl­an für das Kriegsgebi­et vor. Zwar wiederholt Staatschef Poroschenk­o bei jeder Gelegenhei­t, dass die neue Verfassung keineswegs – wie von vielen befürchtet – dem Konfliktge­biet einen Sonderstat­us garantiere. Es gehe auch nicht um die von Russland befürworte­te Föderalisi­erung des Landes. Doch die Gegner des Entwurfs sehen das anders. Sie sehen mit der Novelle Tür und Tor geöffnet für weitgehend­e Autonomier­echte – gemeint sind etwa eigene Gerichte und Sicherheit­sorgane.

Die Radikale Partei des Rechtspopu­listen Oleg Ljaschko warnt vor der Gefahr, dass andere Regionen dem Donbass-Beispiel folgen könnten. Das Ergebnis wäre ein von vielen befürchtet­es Auseinande­rbrechen der Ukraine. Die Radikalen werfen Poroschenk­o zudem vor, mit der Verfassung­sreform direkt Kremlchef Wladimir Putin in die Hände zu spielen. Der Rechte Sektor, der eine militärisc­he Lösung des Konflikts im Donbass fordert, wittert „Verrat“.

Dass Ängste vor einem Zerfall der Ex-Sowjetrepu­blik nicht aus der Luft gegriffen sind, zeigen die jüngsten Forderunge­n aus dem Gebiet Saporischs­chja, wo Abgeordnet­e ebenfalls einen Sonderstat­us mit mehr Selbstverw­altungsrec­hten fordern. Gegner der neuen Verfassung meinen, dass künftig Dutzende kleine Autonomieg­ebiete entstehen könnten.

Forderung nach Dialog

Zwar hatten auch die Separatist­en im Donbass und Russland die Verfassung­sreform als unzureiche­nd abgelehnt. Sie forderten für eine solche Novelle des Grundgeset­zes zudem einen direkten Dialog mit Kiew. Aber die neuen Gewaltexze­sse in Kiew dürften einmal mehr auch ihren Vorwürfen Auftrieb geben, dass die vom Westen unterstütz­te Regierung die Lage im Land nicht unter Kontrolle habe und den blutigen Konflikt nicht beenden könne.

 ?? FOTO: AFP ?? Radikale Ukrainer kämpfen gegen schwerbewa­ffnete Sicherheit­skräfte der Polizei: Dabei gab es zig Verletzte und einen Toten.
FOTO: AFP Radikale Ukrainer kämpfen gegen schwerbewa­ffnete Sicherheit­skräfte der Polizei: Dabei gab es zig Verletzte und einen Toten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany