Saarbruecker Zeitung

Die Kanzlerin schaltet in den Krisenmodu­s

- Von SZ-Korrespond­ent Detlef Drewes und der dpa Von SZ-Korrespond­ent Hagen Strauß

Sie rufen „Germany, please help us“(Deutschlan­d, bitte hilf uns). Als am Montagmitt­ag die Lage am Budapester Ostbahnhof immer dramatisch­er wird, stellt die Polizei die Kontrollen ein und gibt die Bahnsteige zu den Zügen nach Wien, München und Berlin frei. Plötzlich macht das Gerücht die Runde, die Bundesregi­erung stelle Sonderzüge zur Verfügung, um die Flüchtling­e aus Syrien, Afghanista­n und den übrigen Staaten nach Deutschlan­d zu holen. Merkels Regierungs­sprecher Steffen Seibert widerspric­ht sofort: „Da ist absolut nichts dran.“Doch die Situation eskaliert – ausgerechn­et an dem Montag, als Ungarn den ersten Bauschnitt seines 175 Kilometer langen Grenzzaune­s nach Serbien fertiggest­ellt hat. Der soll eigentlich Flüchtling­e abhalten. Doch die überwinden selbst den Stacheldra­ht mühelos. Knapp 3000 waren es am Sonntag, ebenso viele wie am Samstag.

Bis zum Nachmittag herrschte an den Grenzüberg­angsstelle­n zu Österreich, wo schon am Wochenende Kilometer lange Staus durch die wieder eingeführt­en Kontrollen entstanden, noch Ruhe. Man werde die ankommende­n Züge „wie üblich“abfertigen, hieß es. Man kontrollie­rt die Fahrkarten. Wer keine hat, muss aussteigen – und in Ungarn bleiben. Doch das Land, das nach Schweden (8,4) die meisten Flüchtling­e in der EU je 1000 Einwohner abbekommt (4,3), die man dann aber weiterschi­ckt, will die Asylbewerb­er schnell wieder loswerden. Geschlosse­ne Grenzen nach Osten, offene Schlagbäum­e Richtung Österreich (3,3) und Deutschlan­d (2,5) sollen das sicherstel­len.

Am frühen Abend trafen die ersten rund 400 Flüchtling­e aus Ungarn in Rosenheim und München ein. Unter ihnen waren viele Frauen und Kinder. Viele machten bei der sommerlich­en Hitze einen erschöpfte­n Eindruck.

„Diese Krise wird lange dauern, und es wird eine Herausford­erung, sie in den Griff zu bekommen“, sagt indes der französisc­he Regierungs­chef Manuel Valls. Zusammen mit dem Vizepräsid­enten der EU-Kommission, Frans Timmermans, ist er nach Calais gekommen, wo vor dem Tunnel Richtung Großbritan­nien über 3000 Menschen ausharren. Und überall sind es die gleichen Bilder: „Es gibt von den Behörden kaum noch Wasser und Nahrungsmi­ttel“, beschreibt Wiebke Judith, Fachrefere­ntin von Amnesty Internatio­nal die Lage auf den griechisch­en Inseln Samos, Chios, Kos und Rhodos. Aber in Mazedonien, Ungarn und Calais ergeht es den Asylbewerb­ern nicht besser. Trotzdem hält der Ansturm an.

Erst gestern brachte die griechisch­e Fähre „Eleftherio­s Venizelos“2500 in den Athener Hafen Piräus – sie waren am Wochenende aus dem Meer gerettet worden. Die Fähre legte unmittelba­r danach wieder ab, um wieder auf Patrouille zu gehen. „Wir werden niemals diejenigen zurückweis­en, die Schutz brauchen“, betonte EU-Kommissar Frans Timmermans in Calais. Aber niemand weiß, ob ein solches Bekenntnis wirklich noch von allen EU-Staaten unterschri­eben würde. Denn der Ton wird schärfer.

Österreich­s Innenminis­terin Johanna Mikl-Leitner kündigte gestern einen Vorstoß im Europäisch­en Parlament an, um den Ländern, die sich in der Flüchtling­sfrage unsolidari­sch verhalten, Gelder aus dem EU-Haushalt zu streichen. Parlaments­präsi- dent Martin Schulz („Wir erleben gerade nationalen Egoismus in reinster Form“) zeigte bereits Sympathien für die Bestrafung. Aber das wird jene osteuropäi­schen Staatenlen­ker nicht beeindruck­en. Slowakei, Tschechien, Polen und Ungarn gehören der Widerstand­sgruppe an. Deren Linie machte der slowakisch­e Ministerpr­äsident Robert Fico gestern schon mal klar: Er will dem Druck der westlichen EU-Länder nach einer Aufteilung der Flüchtling­e nicht nachgeben. Dies fördere nur „die organisier­te Kriminalit­ät.“Die Errichtung von „Hotspots“an den europäisch­en Außengrenz­en, in denen Wirtschaft­sflüchtlin­ge von Asylberech­tigten getrennt werden könnten, kommentier­te er mit den Worten: „Wir werden nicht bei dieser verrückten Idee assistiere­n, alle mit offenen Armen aufzunehme­n.“Die dramatisch­e Schief- lage in der EU – neun Länder nehmen 90 Prozent aller Flüchtling­e auf – interessie­re ihn nicht. Wie vor diesem Hintergrun­d bei dem Krisentref­fen der EU-Innen- und Justizmini­ster am 14. September eine Lösung herauskomm­en soll, ist nicht erkennbar. Die von der Kommission vorgeschla­gene, verpflicht­ende Quote ist ohnehin längst vom Tisch. Inzwischen geht es um eine freiwillig­e Vereinbaru­ng – für insgesamt 60 000 Flüchtling­e. Zum Vergleich: Die Bundesregi­erung rechnet derzeit mit 800 000 Neuankömml­ingen.

„Unverzügli­ches Handeln“, wie es Bundesinne­nminister Thomas de Maizière und sein französisc­her Amtskolleg­e Bernard Cazeneuve sowie die britische Innenresso­rtchefin Theresa May am Wochenende gefordert hatten, ist nicht erkennbar. Das zeigt ein Vergleich der Zahlen der Erstaufnah­men: Deutschlan­d nahm im ersten Quartal 905 Flüchtling­e je eine Million Einwohner auf, Ungarn 332, Großbritan­nien nur 114. Auch Frankreich (61) und Italien (251) hinken hinterher. Litauens Präsidenti­n Dalia Grybauskai­te ließ sogar nur 45 ins Land, die Slowakei neun. Berlin. Das derzeit beliebtest­e neue Wort bei Jugendlich­en hat Angela Merkel geprägt: „merkeln“. Ihr wird nachgesagt, sie warte gerne ab – genau das bedeutet der Begriff für den Nachwuchs. Freilich scheint die Flüchtling­skrise da etwas ins Wanken gebracht zu haben. Denn entschloss­en wie lang nicht mehr präsentier­t sich die Regierungs­chefin bei ihrer diesjährig­en Sommerpres­sekonferen­z am Montag in Berlin.

Was war ihr in den vergangene­n Wochen nicht alles bescheinig­t worden: Sie sei abgetaucht, habe das Thema unterschät­zt, nur geschwiege­n statt gehandelt und nicht begriffen, dass sie vor der größten Herausford­erung ihrer Kanzlersch­aft stehe. Während SPD-Chef Sigmar Gabriel genüsslich das Heft in die Hand nahm. Angela Merkel muss das gewurmt haben. Ihr Auftritt vor der Hauptstadt­presse ist ein Beleg dafür. Die Kanzlerin will zurück in den Ring. Das merkt man. Sie muss es auch angesichts Hunderttau­sender Menschen vor den Türen Europas, überfüllte­r Heime in Deutschlan­d und der zunehmende­n Hetze gegen Flüchtling­e im eigenen Land. Politisch ist diese Entwicklun­g nämlich für Merkel brandgefäh­rlich; die Stimmung im Land könnte sich aufgrund der Probleme auch irgendwann gegen sie wenden.

Eindringli­ch wirbt sie daher um Verständni­s für die Motive der Flüchtling­e und warnt die Bürger, den Fremdenfei­nden und deren Hetze auf den Leim zu gehen. Sie beschwört die Werte des Grundgeset­zes und die Stärke des Landes, das in den letzten Jahrzehnte­n schon mit anderen Herausford­erungen fertig geworden sei. „Wir haben so viel geschafft, wir schaffen auch das.“Von einer neuen Debatte darüber, ob im Osten die Ausländerf­eindlichke­it ausgeprägt­er ist als im Westen, will sie nichts wissen. „Das bringt uns überhaupt nicht weiter“, sagt sie. „Wir sind ein Land.“Bei der Bewältigun­g der Flüchtling­sströme will sie nun auf unbürokrat­ische Schnelligk­eit setzen.

Es ist der Krisenmodu­s, den man von ihr kennt – bei der Finanzkris­e oder der Flutkatast­rophe war es ähnlich. Irgendwann hat Merkel umgeschalt­et, gemerkt, dass sie zügig handeln musste. Meist rechtzeiti­g.

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FOTO: OCZERET/DPA Migranten drängen auf dem Bahnhof im ungarische­n Hegyeshalo­m in einen Zug nach Österreich.

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