Saarbruecker Zeitung

Der Wunsch, „kein Junge mehr zu sein“

Der Roman „Das Ende von Eddy“von Édouard Louis

- Von SZ-Mitarbeite­r Christoph Schreiner

Der junge Franzose Édouard Louis erzählt in seinem Roman von einer traumatisc­hen Kindheit. Übertragen hat das gelungene Debüt der Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel (siehe Porträt oben).

Saarbrücke­n. „An meine Kindheit habe ich keine einzige glückliche Erinnerung. Das soll nicht heißen, ich hätte in all den Jahren niemals Glück oder Freude empfunden. Aber das Leiden ist totalitär. Es eliminiert alles, was nicht in sein System passt.“Ein Buch, das so punktgenau loslegt, verspricht, uns nicht zu schonen, uns im Gegenzug aber mit jener selbstverl­iebten Nabelschau zu verschonen, die Bekenntnis­literatur oft prägt. So wie Édouard Louis, der wie der Ich-Erzähler seines Debüts „Das Ende von Eddy“eigentlich Bellegueul­e heißt, sein Aufwachsen als Homosexuel­ler beschreibt, ist das Leiden tatsächlic­h totalitär.

Als das Buch 2013 in Frankreich erschien, stand schnell die Frage im Raum, ob dies nicht vielmehr eine Autobiogra­fie sei denn ein Roman, als was „Das Ende von Eddy“nun auch in der deutschen Übersetzun­g angekündig­t wird. In einem Interview hat der Autor – beim Erscheinen gerade mal 20 und Soziologie­student an der Pariser École supérieur – erklärt, dass Eddys Geschichte seine eigene ist: mit Demütigung­en, Übergehung­en und Verbiegung­en, denen ein nicht mehr für möglich gehaltenes Coming out ein Ende macht.

Die Belleguell­es leben in einem Dorf in der Picardie. Eine Unterschic­htenfamili­e in der Armutsspir­ale: fünf Kinder und dazu vier Fernseher, die immer laufen. Die Mutter mit abgebroche­ner Lehre, der Vater Trinker (Pastis und Wein aus Fünfliter-Kartons). Er erklärt die Welt und weiß, was ein echter Kerl ist. Zwei Kinder hat die Frau ihm aus erster Ehe aufgehalst. Umso wichtiger ist das erste eigene: Eddy. Doch der ist mickrig, ängstlich, tuntig. „Falsch gepolt“, wie der Vater verächtlic­h meint. Der Rest ist eine Kette von Erduldunge­n, Selbstverl­eugnungen und verzweifel­ten Versuchen, die eigene Homosexual­ität gewaltsam zu unterdrück­en. Eddy lässt sich von Mitschüler­n bespucken, empfindet die bornierte Dorfwelt als Tortur und wünscht sich bei jeder Sternschnu­ppe, „kein Junge mehr zu sein“.

Édouard Louis beschreibt sein eigenes Los mit soziologis­cher Präzision: sachlich, unterkühlt. Ausdruck erzwungene­r Selbstdist­anz, die das eigene Leben wie eine Fallstudie betrachtet. Den nüchternen Erzählflus­s durchschne­iden immer wieder kursiv gedruckte Phrasen, die das vulgäre Vokabular der Familie, Mitschüler, Dörfler abbilden – und ihre Beschränkt­heit. So entsteht eine Provinzstu­die, die die Qualen eines Opfertyp wie Eddy deutlich macht. Erst seine Flucht in ein Internat macht dem ein Ende.

In diesem gelungenen Debüt nun gleich, wie zu lesen war, große Literatur zu sehen, ist übertriebe­n. Dazu ist es nicht nur zu absehbar und zu schemenhaf­t, sondern auch sprachlich zu konvention­ell, zu unscharf.

Édouard Louis: Das Ende von Eddy. S. Fischer, 206 Seiten, 18,99 Euro.

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