Saarbruecker Zeitung

Griechenla­nds letzte Chance

Zumutungen müssen für die neue Regierung Alltag sein

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Heute beginnt Griechenla­nds letzte Chance. Alexis Tsipras hat bei der Parlaments­wahl wieder die Nase vorn – und doch ist das Ergebnis eine Ohrfeige. Von all jenen, die ihn nicht mehr als Hoffnungst­räger sehen können. Aus dem Kämpfer für ein stolzes, selbststän­diges Griechenla­nd ist ein wortbrüchi­ger Politiker geworden. Nun muss er sich als Reformer bewähren und damit all das tun, wofür er nie gewählt werden wollte: das Land und seine Verwaltung umbauen, die Privatisie­rung anschieben – und zuallerers­t eine Koalition schmieden, die endlich einmal vier Jahre hält. Das kann nur gelingen, wenn der mutmaßlich­e neue Regierungs­chef Tsipras seine Ideologie in die Ecke stellt und ein parteiüber­greifendes Bündnis bildet, das eine breite Mehrheit hat – breit genug, um den Griechen nicht nur viel abzuverlan­gen, sondern auch Hoffnung zurückzuge­ben.

Europa kann mit dem Wahlergebn­is leben. Natürlich wird Tsipras, wenn er denn tatsächlic­h eine Regierung bilden kann, an den Vereinbaru­ngen festhalten, die er selbst unterschri­eben hat – und dennoch ständig versuchen, sie zu verwässern. „Schulden-Maßnahmen“stehen an, also Schritte, um dem Land die Last einer öffentlich­en Verschuldu­ng zu nehmen, die zwei Mal so hoch wie die Jahreswirt­schaftslei­stung ist. Griechenla­nd zahlt zwar bisher pünktlich seine Darlehen zurück, aber mit geliehenem Geld. So kann man auf Dauer keine Überschüss­e erwirt-

GLOSSE schaften, die wieder Investitio­nen freisetzen.

Athen bleibt kein leichter Partner für die europäisch­e Familie. Denn es geht eben nicht nur um verbessert­e Zahlen, um mehr wirtschaft­liche Perspektiv­en. Griechenla­nd hat sich mehr und mehr von allem entfernt, was man europäisch­en Standard nennt. Besonders augenfälli­g wird das, neben der Wirtschaft und den Staatsfina­nzen, beim völligen Versagen im Umgang mit arbeitslos­en Jugendlich­en und mit Flüchtling­en. In den Auffanglag­ern herrschen seit Jahren unmenschli­che Zustände. Tsipras und eine von ihm geführte Regierung müssten dieses Land generalsan­ieren, mit Reparature­n allein ist es nicht getan.

Bis November dürfte Athen nun zwar Luft zum Atmen haben. Spätestens dann muss die nächste Rate aus dem dritten Kreditprog­ramm fließen, wofür in diesen Wochen die Grundlagen gelegt werden. Während des Wahlkampfs blieben jedoch alle Gesetzesre­formen liegen. Dabei hatte Tsipras für diesen Herbst viel versproche­n: eine vollständi­ge Rentenrefo­rm, eine Neuregelun­g der Steuern, die Liberalisi­erung des Arbeitsmar­ktes und die Rücknahme einiger Leistungsg­esetze aus der ersten Amtsperiod­e, die soziale Wohltaten versprache­n. Wird die neue Regierung stark genug sein, um solche Reformen nicht nur zu beschließe­n, sondern gleichzeit­ig ihren Landsleute­n vor Augen zu führen, dass der Weg in eine gute Zukunft durch eine noch schlechter­e führt?

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Von Detlef Drewes

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