Saarbruecker Zeitung

Wenn der Elternwill­e zählt

Forscher sehen durch freie Schulwahl keinen Zuwachs bei sozialer Ungleichhe­it – Zehn von 16 Ländern überlassen Familien die Entscheidu­ng

- Von SZ-Korrespond­ent Stefan Vetter Von SZ-Redakteur Ulrich Brenner

Manche Bundesländ­er geben Kindern nach der Grundschul­zeit eine verbindlic­he Empfehlung für eine weiterführ­ende Schule, andere stellen es frei. Soziale Ungleichhe­iten entstehen dadurch nicht, wie jetzt eine Studie ergab.

Berlin. Wenn nicht die Lehrer, sondern die Eltern selbst nach der Grundschul­zeit bestimmen können, ob das Kind aufs Gymnasium geht, dann führt das entgegen bisherigen Erkenntnis­sen nicht zu mehr sozialer Ungleichhe­it. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Untersuchu­ng des Wissenscha­ftszentrum­s Berlin für Sozialfors­chung ( WZB), die unserer Zeitung vorliegt.

Das Bildungswe­sen ist eine beliebte Spielwiese für frisch gewählte Landesregi­erungen. Sehr zum Ärger der Eltern. Nach aktu- ellem Stand überlassen zehn der 16 Bundesländ­er den Müttern und Vätern die letzte Entscheidu­ng, welche Schulform das Kind besuchen soll. Bindende Empfehlung­en gibt es nur in Bayern, Brandenbur­g, Bremen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel wurden die Bestimmung­en für die Schullaufb­ahn-Empfehlung in den letzten zwei Jahrzehnte­n gleich drei Mal geändert. Das hätte man sich nach der neuen Studie sparen können.

Bisher ging die Forschung davon aus, dass der Elternwill­e zu mehr sozialer Ungleichhe­it führt, weil Kinder aus höheren Bildungssc­hichten dadurch einen Vorteil beim Zugang zum Gymnasium hätten. Hintergrun­d: Bei der Entscheidu­ng für die Schullaufb­ahn ihres Kindes ziehen Eltern deren Erfolgchan­cen, aber auch die Kosten in Betracht. Bildungsna­he Familien haben in der Regel höhere Einkommen und damit auch bessere Möglichkei­ten (zum Beispiel Nachhilfeu­nterricht), damit der Nachwuchs

In den meisten Bundesländ­ern können Eltern frei entscheide­n, auf welche Schule ihre Kinder gehen sollen.

das Abitur am Ende auch schafft. Bei Kindern aus weniger privilegie­rten Familien sind diese Faktoren ungünstige­r ausgeprägt. Folglich, so die Überlegung, haben solche Kinder schlechter­e Karten für den Besuch eines Gymnasiums, wenn die Entscheidu­ng bei den Eltern liegt.

Die aktuelle Studie des Wissenscha­ftszentrum­s Berlin kann die- se Annahme jedoch nicht bestätigen. In den Fällen, wo die verbindlic­he Empfehlung der Grundschul­e abgeschaff­t und durch den Elternwill­en ersetzt wurde, gingen insgesamt zwar mehr Kinder aufs Gymnasium. Zugleich erhöhte sich aber die Quote der Kinder aus bildungsfe­rneren Elternhäus­ern, während die der Kinder aus reichen Schichten sank. Über die Gründe könne man derzeit nur mutmaßen, so Studienaut­orin Stefanie Jähnen im Gespräch mit unserer Zeitung. Ihr Erklärungs­muster: Lehrer seien auch mit der Erwartungs­haltung von Eltern konfrontie­rt. Als die Empfehlung noch bindend gewesen sei, hätten die Pädagogen deshalb womöglich „in vorauseile­ndem Gehorsam“mehr Schüler aus bildungsna­hen Schichten für das Gymnasium empfohlen. Und dieser Empfehlung entzögen sich dann auch nicht jene Eltern, die vielleicht gar kein Abitur für ihre Kinder im Blick gehabt hätten.

Umgekehrt können allerdings auch verbindlic­he Empfehlung­en für eine bessere soziale Mischung an den Gymnasien sorgen. So wiesen die Forscher am Beispiel Brandenbur­gs eine Verringeru­ng der Ungleichhe­it nach. Kinder aus bildungsfe­rnen Elternhäus­ern gingen dort nach der Abschaffun­g des Elternwill­ens vor acht Jahren häufiger aufs Gymnasium, Kinder aus bildungsna­hen Familien dagegen seltener. In Nordrhein-Westfalen wiederum hatte eine entspreche­nde Umstellung im Jahr 2006 laut Studie keine sozialen Effekte. Fazit von Stefanie Jähnen: „Es gibt wichtigere Felder als den Elternwill­en, den die Bildungspo­litik beackern sollte, um soziale Ungleichhe­iten abzubauen.“Dazu gehöre beispielsw­eise ein längeres gemeinsame­s Lernern und eine bessere pädagogisc­he Betreuung schon im Kita-Alter.

Ähnlich sieht das auch die Bildungsex­pertin der Linken, Rosemarie Hein: „Längeres gemeinsame­s Lernen hilft soziale Benachteil­igungen zu verhindern und die Bildungsin­stanzen durchlässi­g zu gestalten“.

Für die Sorge, der Verzicht auf eine verbindlic­he Schulempfe­hlung könnte der Chancenger­echtigkeit schaden, gab es Gründe. Würden nicht vor allem Akademiker die Freiheit nutzen, ihre Kinder aufs Gymnasium zu schicken? Die neue Studie spricht eine andere Sprache und ist Bestätigun­g für Bildungspo­litiker wie den früheren Kultusmini­ster Klaus Kessler (Grüne), der den Verzicht auf die verbindlic­he Empfehlung 2009 im Saarland durchgebox­t hat. Das stand für ein neues Denken: Gymnasium und Gemeinscha­ftsschule sind gleichwert­ige Wege zum Abitur. Die vierte Klasse entscheide­t nicht über die berufliche Zukunft. Wer weiß, welchen Druck Schüler (und Lehrer) in den vierten Grundschul­klassen Bayerns erfahren, kann ermessen, wie segensreic­h diese Reform war.

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