Wenn der Elternwille zählt
Forscher sehen durch freie Schulwahl keinen Zuwachs bei sozialer Ungleichheit – Zehn von 16 Ländern überlassen Familien die Entscheidung
Manche Bundesländer geben Kindern nach der Grundschulzeit eine verbindliche Empfehlung für eine weiterführende Schule, andere stellen es frei. Soziale Ungleichheiten entstehen dadurch nicht, wie jetzt eine Studie ergab.
Berlin. Wenn nicht die Lehrer, sondern die Eltern selbst nach der Grundschulzeit bestimmen können, ob das Kind aufs Gymnasium geht, dann führt das entgegen bisherigen Erkenntnissen nicht zu mehr sozialer Ungleichheit. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Untersuchung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung ( WZB), die unserer Zeitung vorliegt.
Das Bildungswesen ist eine beliebte Spielwiese für frisch gewählte Landesregierungen. Sehr zum Ärger der Eltern. Nach aktu- ellem Stand überlassen zehn der 16 Bundesländer den Müttern und Vätern die letzte Entscheidung, welche Schulform das Kind besuchen soll. Bindende Empfehlungen gibt es nur in Bayern, Brandenburg, Bremen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel wurden die Bestimmungen für die Schullaufbahn-Empfehlung in den letzten zwei Jahrzehnten gleich drei Mal geändert. Das hätte man sich nach der neuen Studie sparen können.
Bisher ging die Forschung davon aus, dass der Elternwille zu mehr sozialer Ungleichheit führt, weil Kinder aus höheren Bildungsschichten dadurch einen Vorteil beim Zugang zum Gymnasium hätten. Hintergrund: Bei der Entscheidung für die Schullaufbahn ihres Kindes ziehen Eltern deren Erfolgchancen, aber auch die Kosten in Betracht. Bildungsnahe Familien haben in der Regel höhere Einkommen und damit auch bessere Möglichkeiten (zum Beispiel Nachhilfeunterricht), damit der Nachwuchs
In den meisten Bundesländern können Eltern frei entscheiden, auf welche Schule ihre Kinder gehen sollen.
das Abitur am Ende auch schafft. Bei Kindern aus weniger privilegierten Familien sind diese Faktoren ungünstiger ausgeprägt. Folglich, so die Überlegung, haben solche Kinder schlechtere Karten für den Besuch eines Gymnasiums, wenn die Entscheidung bei den Eltern liegt.
Die aktuelle Studie des Wissenschaftszentrums Berlin kann die- se Annahme jedoch nicht bestätigen. In den Fällen, wo die verbindliche Empfehlung der Grundschule abgeschafft und durch den Elternwillen ersetzt wurde, gingen insgesamt zwar mehr Kinder aufs Gymnasium. Zugleich erhöhte sich aber die Quote der Kinder aus bildungsferneren Elternhäusern, während die der Kinder aus reichen Schichten sank. Über die Gründe könne man derzeit nur mutmaßen, so Studienautorin Stefanie Jähnen im Gespräch mit unserer Zeitung. Ihr Erklärungsmuster: Lehrer seien auch mit der Erwartungshaltung von Eltern konfrontiert. Als die Empfehlung noch bindend gewesen sei, hätten die Pädagogen deshalb womöglich „in vorauseilendem Gehorsam“mehr Schüler aus bildungsnahen Schichten für das Gymnasium empfohlen. Und dieser Empfehlung entzögen sich dann auch nicht jene Eltern, die vielleicht gar kein Abitur für ihre Kinder im Blick gehabt hätten.
Umgekehrt können allerdings auch verbindliche Empfehlungen für eine bessere soziale Mischung an den Gymnasien sorgen. So wiesen die Forscher am Beispiel Brandenburgs eine Verringerung der Ungleichheit nach. Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern gingen dort nach der Abschaffung des Elternwillens vor acht Jahren häufiger aufs Gymnasium, Kinder aus bildungsnahen Familien dagegen seltener. In Nordrhein-Westfalen wiederum hatte eine entsprechende Umstellung im Jahr 2006 laut Studie keine sozialen Effekte. Fazit von Stefanie Jähnen: „Es gibt wichtigere Felder als den Elternwillen, den die Bildungspolitik beackern sollte, um soziale Ungleichheiten abzubauen.“Dazu gehöre beispielsweise ein längeres gemeinsames Lernern und eine bessere pädagogische Betreuung schon im Kita-Alter.
Ähnlich sieht das auch die Bildungsexpertin der Linken, Rosemarie Hein: „Längeres gemeinsames Lernen hilft soziale Benachteiligungen zu verhindern und die Bildungsinstanzen durchlässig zu gestalten“.
Für die Sorge, der Verzicht auf eine verbindliche Schulempfehlung könnte der Chancengerechtigkeit schaden, gab es Gründe. Würden nicht vor allem Akademiker die Freiheit nutzen, ihre Kinder aufs Gymnasium zu schicken? Die neue Studie spricht eine andere Sprache und ist Bestätigung für Bildungspolitiker wie den früheren Kultusminister Klaus Kessler (Grüne), der den Verzicht auf die verbindliche Empfehlung 2009 im Saarland durchgeboxt hat. Das stand für ein neues Denken: Gymnasium und Gemeinschaftsschule sind gleichwertige Wege zum Abitur. Die vierte Klasse entscheidet nicht über die berufliche Zukunft. Wer weiß, welchen Druck Schüler (und Lehrer) in den vierten Grundschulklassen Bayerns erfahren, kann ermessen, wie segensreich diese Reform war.