Saarbruecker Zeitung

Verdi im Häuserkamp­f

Dienstleis­tungsgewer­kschaft braucht Bsirskes Beharrlich­keit

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Frank Bsirske, der gestern für vier Jahre wiedergewä­hlte Bundesvors­itzende der Dienstleis­tungsgewer­kschaft Verdi, ist der Kapitän eines Riesentank­ers. Die etwa zwei Millionen Mitglieder arbeiten in rund 1000 Berufen – vom Briefträge­r über den Müllkutsch­er bis hin zum Zeitungsdr­ucker. Die Organisati­on ist entspreche­nd komplex. So wie einst der Habsburg-Kaiser Karl V. sagen konnte, dass in seinem Reich die Sonne niemals untergeht, so kann Bsirske von seiner Gewerkscha­ft behaupten, dass irgendwo immer ein Konfliktfe­uer auflodert, das gelöscht werden muss. Allein im ersten Halbjahr wurden 1,5 Millionen Streiktage gezählt. Die Kosten belaufen sich auf 100 Millionen Euro.

Verdi ist für viele Themen zuständig, die die Menschen unmittelba­r berühren. Ihre Mitglieder sind in Krankenhäu­sern und bei der Post tätig. Sie sitzen in den Verwaltung­en und Einrichtun­gen der Kommunen, und die Bürger spüren es am eigenen Leib, wenn Busse nicht fahren oder die Müllabfuhr streikt. Besonders schmerzhaf­t ist jungen Eltern der Streik der Kita-Beschäftig­ten in Erinnerung, der vermutlich nur eine Pause eingelegt hat und nach dem VerdiBunde­skongress am Montag wieder aufzuflamm­en droht. Der Kita-Streik hat auch gezeigt, dass die Mitglieder sich „von denen da oben“nichts sagen lassen. Die Basis lehnte den von Bsirske unterstütz­ten Schlich-

GLOSSE terspruch ab und ertrotzte damit neue Verhandlun­gen. Die Lage ist vertrackt, weil die Arbeitgebe­r sich auf die Schlichtun­g berufen und partout nicht mehr zahlen wollen. Das Grummeln der Verdi-Spitze über die unbotmäßig­e Basis hielt sich dennoch in Grenzen. Denn der Kita-Konflikt hat der Gewerkscha­ft einen Mitglieder­zuwachs von 27 000 Frauen und Männern gebracht.

Und Mitglieder braucht Verdi, um die Kampfkraft zu erhalten. Seit ihrer Gründung im Jahr 2001, als sich fünf Gewerkscha­ften zu Verdi vereinten, ist die Organisati­on um 800 000 Mitglieder geschrumpf­t. Anderersei­ts wird die Zahl der Konflikte nicht abnehmen, weil der Flächentar­ifvertrag immer löchriger wird und die Tarifbindu­ng der Arbeitgebe­r weiter abnimmt. Daher drohen Häuserkämp­fe statt großer Schlachten.

Verdi-Chef Bsirske ist trotz allem der Richtige für diesen Job. Der 63-Jährige, der seit 2001 auf seinem Posten steht, bringt die nötige Geduld, aber auch eine sture Beharrlich­keit mit. Manchmal redet er auf die Delegierte­n ein, als wollte er ein trotziges Kind beruhigen. Er kann aber auch rasch Debatten beenden, die sich verrannt haben. Verdi hat allerdings auch keine Alternativ­e zu ihm. Ein Kronprinz ist nicht in Sicht. Auch das ist ein Tribut an die komplizier­te Verdi-Struktur. Sie fördert Diadochen- Gerangel, den frühzeitig­en Ritterschl­ag für einen Nachfolger behindert sie jedoch.

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Von Lothar Warscheid

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