Saarbruecker Zeitung

Schicksals­tage einer Kanzlerin

Entscheide­nde Woche in der Flüchtling­skrise – Muss Merkel die Vertrauens­frage stellen?

- Von Werner Kolhoff und Hagen Strauß (SZ) PRODUKTION DIESER SEITE: ROBBY LORENZ, IRIS NEU THOMAS SCHÄFER

Das Treffen mit Sri Lankas Staatspräs­ident Sirisena heute wird sicher der angenehmst­e Termin der Kanzlerin in dieser Woche sein. Vor allem, weil der Mann nicht der EU angehört. Mit deren Staats- und Regierungs­chefs sind Treffen derzeit nämlich eher ungemütlic­h. Morgen und am Freitag wird es in Brüssel beim Gipfel zum Showdown kommen. Erst sind die britischen Sonderwüns­che und Austrittsd­rohungen Thema, dann die Flüchtling­e. Angela Merkels Woche der Entscheidu­ng ist da.

Viel Hoffnung auf europäisch­e Solidaritä­t kann die Kanzlerin sich nicht machen, nachdem am Wochenende auch Frankreich überrasche­nd verkündet hat, ein dauerhafte­s Verteilsys­tem von Flüchtling­en abzulehnen. Ein solches System aber ist der Kern des Merkelsche­n Konzeptes: Die Außengrenz­en sichern, Flüchtling­e aus der Türkei in Kontingent­en abnehmen und sie gerecht in allen Länder Europas unterbring­en. Wenn das nicht geht, wenigstens in den gutwillige­n Staaten. Merkel trifft sich deshalb morgen in der belgischen Hauptstadt gesondert mit diesem Kreis. Doch seit Frankreich­s Ausscheren ist kein anderes großes Land mehr dabei.

Die vier so genannten Visegrad-Staaten Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei wehren sich ohnehin vehement gegen die Aufnahme von Flüchtling­en und arbeiten aktiv gegen Merkels Plan an. Sie wollen stattdesse­n, dass Mazedonien seine Grenzen nach Griechenla­nd dichtmacht. Merkel befürchtet, dass sich die Flüchtling­e dann massiv in Hellas stauen und das Land noch weiter destabilis­ieren. Die SPD-Spitze sprang ihr bei. In einem Brandbrief an alle gleich gesinnten Parteiführ­er in Europa warnten SPD-Chef Sigmar Gabriel und Außenminis­ter Frank-Walter Steinmeier vor einer solchen „Scheinlösu­ng, die die europäisch­e Debatte vergiftet“.

Gestern Abend traf Merkel zur Vorbereitu­ng der Woche den EURatspräs­identen Donald Tusk im Kanzleramt, heute gibt sie im Bundestag eine Regierungs­erklärung ab. Dann geht es los. Inzwischen wird in Berlin sogar diskutiert, ob Merkel die Vertrauens­frage stellen wird, um sich zu- mindest Rückendeck­ung im eigenen Parlament zu holen. FDPChef Linder hatte den Vorschlag von außen in die Debatte geworfen, nicht ohne Hintersinn, denn bei dem Scheitern einer Vertrauens­frage kann es Neuwahlen geben. „Die Situation, die wir haben, ist unerträgli­ch“, so der Liberale treuherzig. Wenn Merkel ohne Erfolge aus Brüssel zurückkomm­e, müsse sie die Vertrauens­frage stellen. „Mindestens, um ihre Autorität wieder herzustell­en. “Ein Vertrauter Merkels hält das nicht für nötig. Die Zahl der Unterstütz­er in der Union sei größer, als viele denken würden, sagte er. Auch Regierungs­spre- cher Steffen Seibert betonte: „Das steht für die Bundeskanz­lerin gar nicht zur Debatte.“

Im Kanzleramt gibt man sich trotzig. Es gebe keine Frist für Angela Merkel, um Erfolge zu verkünden, heißt es dort. Bei der CSU klang das freilich anders. Nach dem Gipfel würden er und die Kanzlerin eine Zwischenbi­lanz ziehen, so CSU-Chef Horst Seehofer. Sein Adlatus, Generalsek­retär Andreas Scheuer, wurde noch deutlicher: „Wenn auf dem Gipfel keine wirksamen Beschlüsse erreicht werden, muss national gehandelt werden.“

Freilich wird die Frage sein, ab wann der Gipfel als gescheiter­t betrachtet werden muss. Steinmeier betonte gestern, es gebe „nicht die eine Entscheidu­ng, das eine Rezept“. Auch Merkels Gefolgsleu­te sind derzeit eifrig dabei, die Erwartunge­n an den Gipfel herunterzu­schrauben – und die bisherigen Ergebnisse schönzured­en. Nach CDU- Generalsek­retär Peter Tauber wies gestern Unionsfrak­tionsgesch­äftsführer Michael Grosse-Brömer darauf hin, dass Merkel schon viele Erfolge erzielt habe. Er nannte die Syrien- Geberkonfe­renz in London oder die Vereinbaru­ngen mit der Türkei. Die Zahl der Flüchtling­e sei gesunken. „Es wird auch bei diesem Gipfel in Brüssel keinen Schalter geben, womit man die Flüchtling­skrise abschaltet“, so Grosse-Brömer. Die Unionsfrak­tion stehe aber mit „großer Mehrheit“hinter der Kanzlerin.

Merkel selbst versuchte, die Erwartunge­n ebenfalls herunterzu­zoomen. Es werde in Brüssel „wahrlich nicht“um Kontingent­e gehen. Angesichts der Tatsache, dass von der in der EU schon vereinbart­en Verteilung von 160 000 Flüchtling­en bisher weniger als Tausend verteilt worden seien, mache man sich damit „nur lächerlich“, sagte sie gestern. Ihr gehe es vielmehr darum, den „europäisch-türkischen Ansatz“weiterzuve­rfolgen. Darauf setze sie ihre ganze Kraft. Die Frage sei: „Lohnt es sich, diesen Weg weiterzuge­hen, oder müssen wir jetzt schon aufgeben?“Es war das erste Mal seit Beginn der Flüchtling­skrise, dass die Kanzlerin das Wort „aufgeben“in den Mund nahm. Statt „schaffen“.

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FOTO: DPA/KAPPELER Die Kanzlerin ist durch die Flüchtling­skrise angeschlag­en. Beim Gipfel in Brüssel setzt sie nun ganz auf die Türkei.

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