Schicksalstage einer Kanzlerin
Entscheidende Woche in der Flüchtlingskrise – Muss Merkel die Vertrauensfrage stellen?
Das Treffen mit Sri Lankas Staatspräsident Sirisena heute wird sicher der angenehmste Termin der Kanzlerin in dieser Woche sein. Vor allem, weil der Mann nicht der EU angehört. Mit deren Staats- und Regierungschefs sind Treffen derzeit nämlich eher ungemütlich. Morgen und am Freitag wird es in Brüssel beim Gipfel zum Showdown kommen. Erst sind die britischen Sonderwünsche und Austrittsdrohungen Thema, dann die Flüchtlinge. Angela Merkels Woche der Entscheidung ist da.
Viel Hoffnung auf europäische Solidarität kann die Kanzlerin sich nicht machen, nachdem am Wochenende auch Frankreich überraschend verkündet hat, ein dauerhaftes Verteilsystem von Flüchtlingen abzulehnen. Ein solches System aber ist der Kern des Merkelschen Konzeptes: Die Außengrenzen sichern, Flüchtlinge aus der Türkei in Kontingenten abnehmen und sie gerecht in allen Länder Europas unterbringen. Wenn das nicht geht, wenigstens in den gutwilligen Staaten. Merkel trifft sich deshalb morgen in der belgischen Hauptstadt gesondert mit diesem Kreis. Doch seit Frankreichs Ausscheren ist kein anderes großes Land mehr dabei.
Die vier so genannten Visegrad-Staaten Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei wehren sich ohnehin vehement gegen die Aufnahme von Flüchtlingen und arbeiten aktiv gegen Merkels Plan an. Sie wollen stattdessen, dass Mazedonien seine Grenzen nach Griechenland dichtmacht. Merkel befürchtet, dass sich die Flüchtlinge dann massiv in Hellas stauen und das Land noch weiter destabilisieren. Die SPD-Spitze sprang ihr bei. In einem Brandbrief an alle gleich gesinnten Parteiführer in Europa warnten SPD-Chef Sigmar Gabriel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier vor einer solchen „Scheinlösung, die die europäische Debatte vergiftet“.
Gestern Abend traf Merkel zur Vorbereitung der Woche den EURatspräsidenten Donald Tusk im Kanzleramt, heute gibt sie im Bundestag eine Regierungserklärung ab. Dann geht es los. Inzwischen wird in Berlin sogar diskutiert, ob Merkel die Vertrauensfrage stellen wird, um sich zu- mindest Rückendeckung im eigenen Parlament zu holen. FDPChef Linder hatte den Vorschlag von außen in die Debatte geworfen, nicht ohne Hintersinn, denn bei dem Scheitern einer Vertrauensfrage kann es Neuwahlen geben. „Die Situation, die wir haben, ist unerträglich“, so der Liberale treuherzig. Wenn Merkel ohne Erfolge aus Brüssel zurückkomme, müsse sie die Vertrauensfrage stellen. „Mindestens, um ihre Autorität wieder herzustellen. “Ein Vertrauter Merkels hält das nicht für nötig. Die Zahl der Unterstützer in der Union sei größer, als viele denken würden, sagte er. Auch Regierungsspre- cher Steffen Seibert betonte: „Das steht für die Bundeskanzlerin gar nicht zur Debatte.“
Im Kanzleramt gibt man sich trotzig. Es gebe keine Frist für Angela Merkel, um Erfolge zu verkünden, heißt es dort. Bei der CSU klang das freilich anders. Nach dem Gipfel würden er und die Kanzlerin eine Zwischenbilanz ziehen, so CSU-Chef Horst Seehofer. Sein Adlatus, Generalsekretär Andreas Scheuer, wurde noch deutlicher: „Wenn auf dem Gipfel keine wirksamen Beschlüsse erreicht werden, muss national gehandelt werden.“
Freilich wird die Frage sein, ab wann der Gipfel als gescheitert betrachtet werden muss. Steinmeier betonte gestern, es gebe „nicht die eine Entscheidung, das eine Rezept“. Auch Merkels Gefolgsleute sind derzeit eifrig dabei, die Erwartungen an den Gipfel herunterzuschrauben – und die bisherigen Ergebnisse schönzureden. Nach CDU- Generalsekretär Peter Tauber wies gestern Unionsfraktionsgeschäftsführer Michael Grosse-Brömer darauf hin, dass Merkel schon viele Erfolge erzielt habe. Er nannte die Syrien- Geberkonferenz in London oder die Vereinbarungen mit der Türkei. Die Zahl der Flüchtlinge sei gesunken. „Es wird auch bei diesem Gipfel in Brüssel keinen Schalter geben, womit man die Flüchtlingskrise abschaltet“, so Grosse-Brömer. Die Unionsfraktion stehe aber mit „großer Mehrheit“hinter der Kanzlerin.
Merkel selbst versuchte, die Erwartungen ebenfalls herunterzuzoomen. Es werde in Brüssel „wahrlich nicht“um Kontingente gehen. Angesichts der Tatsache, dass von der in der EU schon vereinbarten Verteilung von 160 000 Flüchtlingen bisher weniger als Tausend verteilt worden seien, mache man sich damit „nur lächerlich“, sagte sie gestern. Ihr gehe es vielmehr darum, den „europäisch-türkischen Ansatz“weiterzuverfolgen. Darauf setze sie ihre ganze Kraft. Die Frage sei: „Lohnt es sich, diesen Weg weiterzugehen, oder müssen wir jetzt schon aufgeben?“Es war das erste Mal seit Beginn der Flüchtlingskrise, dass die Kanzlerin das Wort „aufgeben“in den Mund nahm. Statt „schaffen“.