EU soll unabhängiger von russischem Gas werden
Brüssel will Energieverträge der Mitgliedstaaten kontrollieren
Die EU-Kommission setzt in ihrem neuen Energiekonzept auf Flüssiggas und will so neue Lieferländer gewinnen. Russland soll als Hauptlieferant immer weiter zurückgedrängt werden.
Brüssel. Der entscheidende Satz fehlte in den Papieren, die Brüssels Kommissar für Energiefragen gestern vorstellte: Europa soll seine Abhängigkeit von russischem Erdgas nicht nur verringern, sondern am besten auf Null bringen. Ganz so deutlich mochte Miguel Arias Cañete nicht weitergeben, was zuvor sein Chef, Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, per Brief gefordert hatte: die Abkoppelung der 28 Mitgliedstaaten aus der energiepolitischen Umklammerung Moskaus.
„Nach den Gaskrisen von 2006 und 2009, durch die viele Millionen EU-Bürger der Kälte ausgesetzt waren, haben wir gesagt ,Niemals wieder‘“, begründete Energiekommissar Cañete seinen Vorstoß, der vor allem auf mehr Zusammenarbeit der Länder untereinander, gegenseitige Versorgung und eine größere Zahl von Lieferländern setzt. Statt vorrangig aus Russland, Norwegen und Algerien will Brüssel nun mit Staaten wie Katar, Nigeria, Ägypten, Angola und eventuell auch Iran, Irak und Libyen ins Geschäft kommen. Die diskutierte NorthStream-II-Pipeline, die Sibirien direkt mit Deutschland verbinden soll, gilt in Brüssel bei vielen als verpönt. Indes hat der russische Staatskonzern Gazprom 2015 nach eigenen Angaben rund 159 Milliarden Kubikmeter Gas nach Europa (ohne baltische Staaten) geliefert – 8,2 Prozent mehr als im Jahr davor.
Die Kommission hat 14 Projekte regionaler Zusammenarbeit identifiziert. So sollen sich Staaten wie Deutschland, Polen, Tschechien und die Slowakei miteinander vernetzen und im Notfall gegenseitig helfen. Auch zwischen Frankreich, Spanien und Portugal will die Kommission für eine verbesserte Vernetzung sorgen – dort funktioniert der Gas-Transport bisher nur in eine Richtung. Estland, Litauen, Lettland und Finnland, die derzeit zu großen Teilen oder vollständig von Moskaus Lieferungen abhängig sind, werden über neue Leitungen an das EU-Netz angebunden. Bulgarien und Rumänien bekommen Gas aus Griechenland.
Doch das Papier des Kommis- sars ist umstritten, weil die Mitgliedstaaten in Energiefragen regelrecht entmachtet würden. So will Brüssel alle Lieferverträge, die die Staaten abschließen, sehen, bewerten und notfalls auch stoppen können. Voraussetzung ist, dass das Abkommen mindestens 40 Prozent des Marktes abdeckt.
„Gas-Verträge zwischen EUStaaten und ausländischen Unternehmen unterliegen dem europäischen Wettbewerbsrecht. Eine verpflichtende Transparenz von Unternehmensverträgen ist nicht der richtige Weg für mehr Sicherheit bei der Gasversorgung“, rügte die SPD-Europa-Politikerin Martina Werner. Kritiker bemängeln darüber hinaus, dass die EU-Kommission in erster Linie auf Flüssiggas setzt. Tatsächlich sieht Brüssel da großes Potenzial, weil der tiefgekühlte Rohstoff leicht transportierbar ist und in den vorhandenen Gasspeichern gut bevorratet werden kann und immer günstiger wird. Damit würde ein Lieferant die bisher dominante Rolle Russlands übernehmen, der durch die FrackingTechnologie Überschüsse erzielt: die USA, die viel Flüssiggas per Schiff nach Europa schaffen wollen. Europa wendet sich energiepolitisch nach Westen.
Das russische Trauma sitzt: Gleich zwei Mal haben die EU-Mitgliedstaaten in der Vergangenheit erleben müssen, dass Moskau den Gashahn aus politischen Gründen abdrehte. Was nun vorliegt, ist die Revanche: Europa bemüht sich, seine Energieversorgung ohne Russland