Die Gewalt und der Sex
Bei der Berlinale zeigt Spike Lee seinen exzellenten Film „Chi-Raq“
Zu einem Schönheitsschlaf lädt der Berlinale-Film „Genius“ein, der vom Schriftsteller Thomas Wolfe und seinem Lektor Maxwell Perkins erzählt. Packend ist dagegen der neue Film von Spike Lee, der die Bandengewalt in Chicago schildert.
Berlin. Kameras und Mikrofone überall, Tausende Journalisten aus der ganzen Welt. Die Berlinale ist ein gigantischer Aufmerksamkeits- Generator. So wird überall versucht, etwas von dieser Aufmerksamkeit abzuzwacken, überall wird ins Scheinwerfer- und Blitzlicht gedrängelt – ob aus Marketinggründen, Eitelkeit oder Karrierehoffnungen. „In einer Zeit, in der alle in den Vordergrund drängen, erscheint es außergewöhnlich, dass jemand nicht einmal eine Namensnennung für seine Arbeit wollte. Mich hat am meisten fasziniert, dass er heldenhaft war, ohne in der ersten Reihe zu stehen, und so andere dazu brachte, etwas zu erreichen“, sagte Colin Firth gestern bei der Berlinale – er
Spike Lee, Regisseur des Films „Chi-Raq“.
meinte Maxwell Perkins, den der Brite im Literaten-Kostümdrama „Genius“verkörperte. Der Wettbewerbsbeitrag zeichnet die Freundschaft, vor allem aber die intensive Zusammenarbeit zwischen dem New Yorker Lektor und seiner Autorenentdeckung Thomas Wolfe in den 1920er Jahren nach. Jude Law spielt diesen Schriftsteller – bisweilen etwas enervierend – aufbrausend, überschäumend, rücksichts- und maßlos in seinem Schreibwahn und so obsessiv, wie es der Film selbst leider nicht ist. Er erzählt diese Geschichte brav nach und ist ganz klassisch inszeniert, so dass er kaum tiefer dringt in das Autoren- Genie, die Zeit, deren Konflikte, die Literatur und stattdessen haarscharf an der Einschlafgrenze laboriert.
Ganz anders als Spike Lees „Chi-Raq“, der nur außer Konkurrenz gezeigt wurde und aus allen Rohren schießt. Der Titel setzt sich dabei aus zwei Wörtern zusammen: Chicago und dem Irak (auf Englisch), denn die South Side Chicagos ist längst ein Kriegsschauplatz. In den vergangenen 15 Jahren sind dort auf den Straßen mehr Menschen getötet worden als US-Soldaten im Irak. Um von diesem Wahnsinn zu erzählen, sucht der afro-amerikanische Filmemacher eine ungewöhnliche Form: Mit Wut im Bauch schleudert er Komik, Drama, Dialoge in Versform und RapMusic(al) zusammen und kredenzt der griechischen Tragö- die „Lysistrata“ein wildes Update, in dem die Frauen des Viertels große Hoffnungen in einen Sex-Streik setzen: Mit dem wollen sie das Ende der Gang- Gewalt erzwingen.
Um große Hoffnungen geht es auch in „Soy Nero“des britisch-iranisch Filmemachers Rafi Pitts – die setzt der junge Mexikaner Nero in seinen Dienst beim US-Militär. Nachdem er es illegal über die Grenze geschafft hat, sieht er darin die einzige Möglichkeit, seinen größten Wunsch zu erfüllen: unbedingt US-Bürger zu werden. Sein weiter Weg wird dabei mit langem, erzählerischem Ein- und Ausatmen geschildert. Es gibt nur wenige Schauplätze, dazu lang ausgespielte Szenen in einer Villa in Beverly Hills und beim Militäreinsatz im Nahen Osten. Wenn Nero am Ende nur haarscharf überlebt, hat der Film seine Aussage längst gemacht – und die ist reichlich bitter: Neros Traum wurde offenbar wie der vieler anderer nur benutzt. Gewidmet ist „Soy Nero“den Green-CardSoldaten, die nach ihrem Einsatz wieder in ihre Herkunftsländer abgeschoben wurden.