Saarbruecker Zeitung

Türkei steht vor weiterer Islamisier­ung

Debatte um islamische Verfassung bringt Türkei nicht weiter

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Präsident Erdogan will die Türkei umbauen. Nun kommt aus seiner Partei sogar die Forderung nach einer islamische­n Verfassung. Die Opposition schäumt. >

Wenn der frühere Bundeskanz­ler Helmut Kohl so richtig sauer war auf seine Opposition, dann warf er seinen Gegnern vor, sie wollten „eine andere Republik“. Dieses Ziel hat wohl auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. Der Wirbel, den Parlaments­präsident Ismail Kahraman gestern mit der Forderung nach einer islamistis­chen Verfassung auslöste, böte der Türkei eigentlich die Chance, offen darüber zu diskutiere­n, was für ein Land sie sein will. Das Problem ist, dass die aktuelle Lage in Ankara keine freie, offene und demokratis­che Debatte erwarten lässt.

Niemand kann behaupten, dass die von Staatsgrün­der Atatürk übernommen­e Form des türkischen Säkularism­us, also der Trennung von Religion und Staat, demokratis­ch oder gerecht war oder ist. Sie lief stets auf eine Ausgrenzun­g der Religion und frommer Muslime aus dem öffentlich­en Leben der Türkei hinaus. Gleichzeit­ig aber müssen sich Erdogan und seine konservati­ven Anhänger den Vorwurf gefallen lassen, mehr an Vergeltung für die Jahrzehnte lange Diskrimini­erung durch die alte Garde der Säkularist­en interessie­rt zu sein als an einem ehrlichen gesellscha­ftlichen Ausgleich und Neuanfang.

Es ist kein Verbrechen, „eine andere Republik“zu wollen. Da die fromm-konservati­ven Türken die Mehrheit der Wähler stellen, ist es wenig erstaunlic­h, dass der Ruf nach einer Neuaus-

GLOSSE richtung der Verfassung laut wird. Die Schwierigk­eiten beginnen an jenem Punkt, an dem Erdogan und die AKP schon seit Jahren große Defizite offenbaren: dem Schutz von Minderheit­en und dem Respekt vor Andersdenk­enden. Ein Präsident, der kritische Akademiker als „ekelerrege­nd“und kurdische Politiker als Terrorhelf­er beschimpft, sollte sich nicht wundern, wenn ihm außerhalb der eigenen Anhängersc­haft niemand traut.

Erdogan trägt einen Großteil der Verantwort­ung dafür, dass sich in Ankara eine politische Kultur etabliert hat, bei der das anderswo übliche Geben und Nehmen so gut wie unbekannt ist. Nur der absolute Sieg zählt. Im politische­n Wortschatz des Landes fehlt der Begriff für Kompromiss. Deshalb gibt es kaum eine Chance, dass die Forderung des Parlaments­präsidente­n zum Auslöser einer echten Debatte über das künftige Verhältnis zwischen Staat und Religion in der Türkei werden kann. Stattdesse­n werden Erdogan und die AKP weiter versuchen, in einer neuen Verfassung das Projekt eines Präsidials­ystems durchzuset­zen. Möglich ist auch, dass das Thema „islamische Verfassung“erneut auf die Tagesordnu­ng kommt, insbesonde­re wenn Erdogan das Gefühl haben sollte, sich damit bei einer Volksabsti­mmung die Zustimmung religiöser Wähler sichern zu können. Von einer Suche nach einem breiten Konsens ist das Land weit entfernt.

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Güsten
Von Susanne Güsten

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