Die „neue Türkei“nimmt Formen an
Parlamentspräsident will islamische Verfassung für Erdogans Präsidialsystem
Präsident Erdogan will die Türkei umbauen – zu einem präsidentiellen System. Nun fordert ein AKP-Mitglied, den Islam in der neuen Verfassung festzuschreiben. Soll die Türkei ein Gottesstaat werden?
Ankara. Mit Tränengas ist die Polizei in der türkischen Hauptstadt Ankara gestern gegen Demonstranten vorgegangen, die sich vor dem Parlamentsgebäude versammeln wollten. Ihr Protest galt dem islamisch-konservativen Parlamentspräsidenten Ismail Kahraman und dessen Forderung, das Prinzip des Säkularismus aus der Verfassung zu streichen und ein Grundgesetz mit islamischer Orientierung zu schreiben.
Kahraman, Mitglied der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan, äußerte sich vor dem Hintergrund der Bemühungen um eine neue Verfassung für die Türkei. Er bedauerte, dass das Wort „Allah“im derzeitigen Text nicht ein einziges Mal auftauche, und betonte, eine neue türkische Verfassung „darf nicht laizistisch sein“. Vielmehr müsse die Türkei als muslimisches Land eine „fromme Verfassung“erhalten.
Die säkularistische Oppositionspartei wies Kahramans Äußerung umgehend zurück und forderte den Rücktritt des Parlamentspräsidenten. Auch die Nationalistenpartei MHP lehnte Kahramans Vorschlag ab. Selbst die AKP distanzierte sich von ihrem Parlamentspräsidenten. Einige regierungskritische Beobachter sind aber sicher, dass Kahraman das Thema nicht von ungefähr ansprach. Angesichts der Reaktionen habe die AKP verstanden, dass sie mit einer Abkehr vom Säkularismus derzeit nicht durchkomme, twitterte der Erdogan-kritische Journalist Bülent Kenes. Aber: „Zu einer anderen Zeit, mit einer anderen Methode werden sie es wieder versuchen.“Der- zeit hat die AKP im Parlament nicht die erforderliche Mehrheit, um die neue Verfassung zu beschließen oder einer Volksabstimmung vorzulegen.
Erdogan und die AKP wollen mit der neuen Verfassung einen Systemwechsel von der derzeitigen parlamentarischen Demokratie zu einem Präsidialsystem durchsetzen. Die Opposition befürchtet, dass dies zu einem Ein-Mann-System und einem Ende der Gewaltenteilung führen würde. Der Präsident selbst spricht von einer „Neuen Türkei“, die sich von der traditio- nellen – und im Erdogan-Lager zunehmend als Knechtschaft empfundenen – Westbindung des Landes löst und ihren eigenen Weg geht. Dazu gehört auch ein selbstbewussteres Auftreten auf der internationalen Bühne, was die Europäer in jüngster Zeit im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise zu spüren bekommen. Erdogan überzieht Kritiker mit Beleidigungsklagen; auch der Druck auf Journalisten in der Türkei nimmt zu.
Hinter den Bedenken der Opposition gegen das Verfassungsprojekt von Erdogan steht aber nicht nur die Sorge, Erdogan zum unumschränkten Herrscher zu machen. Sie befürchten, dass die Republik von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk abgeschafft werden soll. Atatürk errichtete die moderne Türkei 1923 auf den Trümmern des untergegangenen Osmanenreiches und verankerte die türkische Variante des Säkularismus: Sie sieht nicht die Trennung von Staat und Religion vor, sondern die Kontrolle der Religion durch den Staat. Im Laufe der Zeit erstarrte das säkularistische System zu einem Staatswesen, in dem fromme Türken kaum Aufstiegschancen hatten. Seit dem Regierungsantritt der AKP 2002 befürchten Säkularisten eine neue Islamisierungswelle. Allerdings bedeutet der große Zuspruch konservativer Türken für Erdogan und die AKP nicht, dass die Mehrheit der Wähler nach einem islamistischen Staat strebt. Laut Umfragen liegt die Unterstützung für ein islamisches Rechtssystem (Scharia) bei zehn Prozent.