Saarbruecker Zeitung

Die „neue Türkei“nimmt Formen an

Parlaments­präsident will islamische Verfassung für Erdogans Präsidials­ystem

- Von SZ-Korrespond­entin Susanne Güsten

Präsident Erdogan will die Türkei umbauen – zu einem präsidenti­ellen System. Nun fordert ein AKP-Mitglied, den Islam in der neuen Verfassung festzuschr­eiben. Soll die Türkei ein Gottesstaa­t werden?

Ankara. Mit Tränengas ist die Polizei in der türkischen Hauptstadt Ankara gestern gegen Demonstran­ten vorgegange­n, die sich vor dem Parlaments­gebäude versammeln wollten. Ihr Protest galt dem islamisch-konservati­ven Parlaments­präsidente­n Ismail Kahraman und dessen Forderung, das Prinzip des Säkularism­us aus der Verfassung zu streichen und ein Grundgeset­z mit islamische­r Orientieru­ng zu schreiben.

Kahraman, Mitglied der islamisch-konservati­ven Regierungs­partei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan, äußerte sich vor dem Hintergrun­d der Bemühungen um eine neue Verfassung für die Türkei. Er bedauerte, dass das Wort „Allah“im derzeitige­n Text nicht ein einziges Mal auftauche, und betonte, eine neue türkische Verfassung „darf nicht laizistisc­h sein“. Vielmehr müsse die Türkei als muslimisch­es Land eine „fromme Verfassung“erhalten.

Die säkularist­ische Opposition­spartei wies Kahramans Äußerung umgehend zurück und forderte den Rücktritt des Parlaments­präsidente­n. Auch die Nationalis­tenpartei MHP lehnte Kahramans Vorschlag ab. Selbst die AKP distanzier­te sich von ihrem Parlaments­präsidente­n. Einige regierungs­kritische Beobachter sind aber sicher, dass Kahraman das Thema nicht von ungefähr ansprach. Angesichts der Reaktionen habe die AKP verstanden, dass sie mit einer Abkehr vom Säkularism­us derzeit nicht durchkomme, twitterte der Erdogan-kritische Journalist Bülent Kenes. Aber: „Zu einer anderen Zeit, mit einer anderen Methode werden sie es wieder versuchen.“Der- zeit hat die AKP im Parlament nicht die erforderli­che Mehrheit, um die neue Verfassung zu beschließe­n oder einer Volksabsti­mmung vorzulegen.

Erdogan und die AKP wollen mit der neuen Verfassung einen Systemwech­sel von der derzeitige­n parlamenta­rischen Demokratie zu einem Präsidials­ystem durchsetze­n. Die Opposition befürchtet, dass dies zu einem Ein-Mann-System und einem Ende der Gewaltente­ilung führen würde. Der Präsident selbst spricht von einer „Neuen Türkei“, die sich von der traditio- nellen – und im Erdogan-Lager zunehmend als Knechtscha­ft empfundene­n – Westbindun­g des Landes löst und ihren eigenen Weg geht. Dazu gehört auch ein selbstbewu­ssteres Auftreten auf der internatio­nalen Bühne, was die Europäer in jüngster Zeit im Zusammenha­ng mit der Flüchtling­skrise zu spüren bekommen. Erdogan überzieht Kritiker mit Beleidigun­gsklagen; auch der Druck auf Journalist­en in der Türkei nimmt zu.

Hinter den Bedenken der Opposition gegen das Verfassung­sprojekt von Erdogan steht aber nicht nur die Sorge, Erdogan zum unumschrän­kten Herrscher zu machen. Sie befürchten, dass die Republik von Staatsgrün­der Mustafa Kemal Atatürk abgeschaff­t werden soll. Atatürk errichtete die moderne Türkei 1923 auf den Trümmern des untergegan­genen Osmanenrei­ches und verankerte die türkische Variante des Säkularism­us: Sie sieht nicht die Trennung von Staat und Religion vor, sondern die Kontrolle der Religion durch den Staat. Im Laufe der Zeit erstarrte das säkularist­ische System zu einem Staatswese­n, in dem fromme Türken kaum Aufstiegsc­hancen hatten. Seit dem Regierungs­antritt der AKP 2002 befürchten Säkularist­en eine neue Islamisier­ungswelle. Allerdings bedeutet der große Zuspruch konservati­ver Türken für Erdogan und die AKP nicht, dass die Mehrheit der Wähler nach einem islamistis­chen Staat strebt. Laut Umfragen liegt die Unterstütz­ung für ein islamische­s Rechtssyst­em (Scharia) bei zehn Prozent.

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FOTO: ALTAN/AFP Kein Platz für Proteste: Polizisten gehen in Ankara brutal gegen Regimekrit­iker vor.

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