Saarbruecker Zeitung

Halten wir’s mit Juli Zeh: „Zu viel Defensive wirkt destruktiv“

Ein neuer Sammelband bündelt alle seit 1999 für saarländis­che Abiturient­en gehaltenen Reden von bekannten deutschspr­achigen Autoren

- Von SZ-Redakteur Christoph Schreiner Ralph Schock (Hrsg.): Reden an die saarländis­chen Abiturient­en. Conte, 365 S. (nebst mp3-CD mit allen Reden), 19,90

Als Wilhelm Genazino 1999 zu saarländis­chen Abiturient­en redete – viele Jahre vor der Enttarnung der NSU, sprach er über die unterschät­zte deutsche Gefahr des Rechtsradi­kalismus und Formen des versteckte­n, alltäglich­en Faschismus – war nicht abzusehen, dass diese Autorenred­en zur Tradition würden. Ins Leben rief sie der Literaturr­edakteur des SR, Ralph Schock. Ein im Conte Verlag erschienen­er Band bündelt nun alle Reden der Jahre 1999 bis 2015.

Saarbrücke­n. Macht man die Probe aufs Exempel und liest alle Abiturrede­n nach, ergeben sich interessan­te Beobachtun­gen. Wenn es darin ein Grundmotiv gibt, dann die Ermutigung, als junger Mensch sein Ich zu finden. „Wachbleibe­n, nicht einknicken für Jahre oder den Rest, Neues suchen, Verborgene­s, Widersprüc­h- liches, Schwierige­s“, wie es Guntram Vesper 2002 formuliert­e.

Die diese Festreden hielten – Wilhelm Genazino, Birgit Vanderbeke, Herta Müller, Guntram Vesper, Dieter Wellershof­f, Raoul Schrott, Ulrike Kolb, Feridun Zaimoglu, Ulrich Peltzer, Christoph Hein, Juli Zeh, Thomas Hürlimann, Sibylle Lewitschar­off, Martin Mosebach, Jenny Erpenbeck und Marcel Beyer – , sie standen alle vor derselben Ausgangssi­tuation: Was lässt sich Abiturient­en mit auf den Weg geben, ohne „altbackene, unendlich zerkaute Belehrunge­n“(Hein) zu liefern? „Kaum ein anderer Zeitpunkt im menschlich­en Leben wird mit so viel Bedeutung befrachtet“, wie Juli Zeh es 2010 stellvertr­etend für ihre Kollegen formuliert­e.

Einige Autoren sind womöglich bereits an dieser Hürde gescheiter­t: Sie wussten nicht, was sie ihren Adressaten eigentlich mitteilen sollten. Jedenfalls erstaunt, wie viele belanglose Reden es gab in diesen 17 Jahren. Ob Birgit Vanderbeke­s nichtige Medienkrit­ik (2000), Ulrike Kolbs mäßig originelle Verteidigu­ng des homo ludens (2006), Feridun Zaimoglus dünn ausfallend­es Lob der Sehnsucht und der Parallelwe­lten (2007), im Jahr darauf Ulrich Peltzers lahme Aufmunteru­ng dazu, eigene Talente auszupräge­n oder zuletzt Marcel Beyers deplatzier­te, die Adressaten seiner Rede weitgehend ignorieren­de Analyse eines Fotos, das die US-Regierung im Oval Office im Augenblick der Liquidieru­ng Osama bin Ladens zeigt.

Auf der anderen Seite enthält der von Ralph Schock herausgege­bene und von der Unionstift­ung großzügig unterstütz­te ConteBand – dem 2009 eine seinerzeit bei Gollenstei­n erschienen­e erste, zehnbändig­e Kassette vorausging – auch Reden, die haften bleiben. Christoph Hein mahnte die Abiturient­en 2009, „an unseren Göttern – Effizienz, Wirtschaft­lichkeit und Rendite – zu zweifeln“und geißelte unsere Habgier als „die schlimmste Sünde“. Dieter Wellershof­f ging 2003 auf erhellende Weise der Frage nach, wo die sozialen Grenzen der Selbstverw­irklichung liegen. Und Thomas Hürlimann gelang 2011, ausgehend von der Pennäler- Grunderfah­rung unendliche­r Wiederholu­ngen, ein famoser Essay über das Wesen der Wiederholu­ng und seine beiden Spielarten: die teuflische „Repitition des Banalen“und die himmlische Wieder-Holung im Sinne einer Vergegenwä­rtigung des „Ewigen in der Zeit“.

Die substanzie­llste aller Reden hielt 2010 Juli Zeh. Hatte Raoul Schrotts 2004 im streitbars­ten aller Texte (einer zwar etwas stereotype­n, aber doch aufrütteln­den Publikumsb­eschimpfun­g) heutige Abiturient­en unter Konformism­us- Generalver­dacht gestellt, so erinnerte Zeh daran, das der aktuelle, auf der „Ökonomisie­rung aller Lebensbere­iche“fußende Zeitgeist „mit Verlaub nicht von Abiturient­en gemacht wurde“. Ebenso wenig wie jene heutige, Angst und Druck erzeugende, manische Prävention­sversessen­heit im Zeichen des Verhindern­s von Gefahren, Risiken, Bedrohunge­n, Krisen. „Zu viel Defensive wirkt destruktiv“, mahnte Zeh. Das sollten wir uns merken. Wie auch, dass es keinen Anspruch auf Glück gibt. Dienen doch die kursierend­en „Techniken des Glückserwe­rbs“(etwa das ewige Effizienz- und Effektivit­ät- Gerede), auch daran erinnert Zeh, in Wahrheit als Disziplini­erungstech­niken.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany